LIVINGON #1.3 – DAY ONE PART 3 – JAN 2020
Polizeichef Carlton Blake wich der Flammenwerferattacke aus und eröffnete das Feuer auf Free Fire.
Die Kugeln prallten von der Rüstung ab. Blake trug keinen Schutz gegen die heiße Feuerwand, die auf ihn zurollte. Er sprang hinter das Auto. Die Flammen rauschten über ihn hinweg und versengten seine grauen Haare.
Mit seiner Pistole würde er hier nicht weit kommen. Er brauchte einen anderen Plan.
Alison Conary hatte einen Plan und trat aufs Gaspedal. Free Fire richtete die Waffe auf den heranrollenden Wagen. Die heiße Welle folgte dem vorbeirauschenden Auto. Alison schaute in den Rückspiegel. Free Fire widmete sich wieder dem Polizeichef.
Blake schaute wie ein Reh in die Mündung des Flammenwerfers. Der nächste Stoß würde mehr versengen, als nur seinen Haaransatz. Free Fire betätigte den Abzug.
Die Mündung spuckte eine winzige Stichflamme aus. Es folgte schwarzer Rauch. Das Auto raste heran. Free Fire drehte sich um und konnte noch die Arme vors Gesicht heben, bevor der Aufprall einige Dellen in die Rüstung schlug.
Alison hielt an und kurbelte das Fenster runter.
»Kein Benzin mehr.«
Blake schaute sie mit offenem Mund an. »Was?«
»Das Flammenwerfermodell verbrennt bei dieser Benzinmischung genau drei Flammenstöße, dann muss der Tank aufgefüllt werden.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ich glaube, ich kriege gleich einen Herzinfarkt.« Blake lehnte sich an die Karosserie und atmete tief durch.
Hinter ihm setzte sich Free Fire auf wie ein Cyborg.
»Wir sollten jetzt los.« Alison stieß die Beifahrertür auf.
Free Fire hielt eine Flasche mit einem Tuch im Hals in der Hand.
»Einverstanden.« Blake sprang auf den Sitz.
Mit quietschenden Reifen fuhr der Wagen davon. Im Rückspiegel sahen sie die Straße in Flammen aufgehen.
Die Farbe entfernte sich aus Daxtons Haut. Es handelte sich nicht um einen Nebeneffekt der übertragenen Chamäleonfähigkeiten. Es war schlichte Todesangst.
Dogtooth knurrte. Lillian verbrachte jeden Tag mit Hunden. Sie wusste, was zu tun war. Sie zog einen Knochen aus ihrer Tasche und warf ihn aus dem Fenster. Dogtooth sprang hinterher. Einen uralten Instinkt legte auch ein mutierter Hund nicht ab.
»Was zum Geier passiert hier?« Lillian strich über ihr Fell.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer.« Die Blässe wich aus Daxtons Haut und sie nahm einen Grünton an. »Irgendwie haben sich die Eigenschaften der Tiere auf uns übertragen.« Daxton betrachtete seinen Arm. »Ich habe offensichtlich die Fähigkeiten von Carl gekriegt.« Er schaute Lillian an. »Und du die vom Lama.«
»Ich wusste, dass es keine gute Idee war, das Lama aufzunehmen.«
»Es könnte schlimmer sein.«
»Wie?«
Daxton zeigte zum Fenster, durch das Dogtooth verschwunden war. »Du könntest das da sein.«
Fest entschlossen ihr kriminelles Leben hinter sich zu lassen, fuhren Gerard Barrow und Elin Parker durch den Wald. Livingon versprach Möglichkeiten für einen Neuanfang. Eine neue Stadt. Ein neues Leben. Gute Vorsätze, die in diesem Moment zerschmettert wurden.
Die Frau lag leblos auf dem Asphalt. Neben ihr ein Schild. Darauf stand
Auf den ersten Blick war klar, dass diese Frau keinen Wald mehr retten würde.
»Du hast die Frau überfahren!« Elin schlug Gerard gegen die Schulter. »Weil du nie auf die Straße achtest.«
»Sie stand plötzlich auf der Straße.«
»Niemand steht einfach plötzlich auf der Straße.«
»Ich glaube, im Kofferraum ist eine Schaufel.«
»Was willst du mit einer Schaufel?«
»Was glaubst du? Eine Leiche macht sich nicht gut beim Neuanfang.«
»Ich sollte dich mit vergraben, dann hätte ich weniger Sorgen.« Elin stieg aus. »Ich trage die Schaufel.«
Alison ließ sich aufs Bett fallen. Sie hatte die Polizeiakademie erreicht und hoffte darauf, dass der Rest des Tages ruhig verlief.
Dieses Dröhnen. Ihre Kopfschmerzen verstärkten sich. Ungewöhnlich. Sie hatte nie Kopfschmerzen.
Die Tür flog auf und eine Blondine eilte zum Bett. Sie umarmte Alison mit einem Druck, der ihr die Luft abschnürte. Vielleicht würde die fehlende Sauerstoffzufuhr zum Gehirn ihre Kopfschmerzen lindern. Nein, das war es nicht wert.
»Penny, du drückst mir die Luft ab«, röchelte Alison.
»Ich habe gerade erst von deinem Unfall erfahren. Geht es dir gut?«
Penny Pearl. Das bekannteste Model der Stadt. Alisons beste Freundin. Sie hatte immer eine Kopfschmerztablette in ihrer Handtasche.
»Ich habe dir ja gesagt, dass dieser Job nichts für dich ist. Du hättest Model werden sollen.«
»Penny, ich habe bei weitem nicht dein Aussehen, deine Ausstrahlung und dein Selbstbewusstsein.«
»Man ist immer so schön, wie man sich fühlt.«
»Alt.«
»Wer ist alt?«
»Es heißt, ›man ist so alt, wie man sich fühlt‹.«
»Nun, wir fühlen uns jung, also sind wir wunderschön, nicht wahr?«
Gegen Pennys optimistische Grundeinstellung fehlten Alison die Argumente. Außerdem hinderten ihre Kopfschmerzen sie daran, klar zu denken. Sie schaute auf Pennys Handtasche, in der sich vermutlich Aspirin befand. Beim Gedanken daran hatte sie das Gefühl, dass ihr Gehirn explodierte. »Aspirin heißt eigentlich Acetylsalicylsäure und wird bereits seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Pharmaherstellern vertrieben.« Alison ratterte den Satz runter, als würde sie einen Lexikonartikel auswendig aufsagen.
»Warum erzählst du mir das?«
Alison sprang auf und hielt sich den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Deine Handtasche wiegt 4,3874295 Kilogramm. Das wird für ungefähr eine Zehntelsekunde einen Abdruck auf dem Teppich hinterlassen.«
»Du machst mir Angst, Alison.«
»Angst ist ein Grundgefühl und entsteht, wenn man sich bedroht fühlt. Sie schärft die Sinne und aktiviert den Überlebensinstinkt. Die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol und Kortison bewirkt –« Alison blieb sie still stehen. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf. »Die Kopfschmerzen sind weg.«
»Ähm … gut?«
Alison setzte sich auf ihr Bett. »Ich habe das Gefühl, dass sich mein Kopf mit jeder Menge Wissen füllt. Als würde jemand mit einem Druckluftreiniger Fakten in meinen Kopf schießen.«
»Du hattest einen anstrengenden und aufregenden Tag. Du brauchst Ruhe. Schlaf dich aus. Ich komme dich morgen wieder besuchen.«
Penny stand auf und ging. Vermutlich hatte sie recht. Trotzdem hätte sich Alison besser gefühlt, wenn sie ihr Acetylsalicylsäure dagelassen hätte.
Daxton Scott rieb sich über die schuppige Haut. »Es ist unglaublich.« Er konzentrierte sich. Seine Haut färbte sich blau. »Verdammt. Ich wollte grün.«
»Kannst du mal mit dem Quatsch aufhören und mit mir nach einer Lösung für unser Problem suchen?« Lillian Gillan spuckte an die Wand und schnitt mit einer Schere das Fell an ihren Beinen.
»Ich weiß nicht, was geschehen ist. Wir müssen mit irgendetwas in Kontakt gekommen sein, das unsere DNA mit der von den Tieren vermischt hat.«
Lillian starrte Daxton stumm an.
»Oder so«, fügte er hinzu und schaute zu Boden, um dem Blick auszuweichen. Ein brauner Fleck zog seine Aufmerksamkeit auf sich. »Der Kaffee!«
»Was ist mit dem Kaffee?«
»Du hast davon getrunken. Ich habe davon getrunken. Und Dogtooth hat ihn aufgeleckt.« Daxton dachte nach. »Und die Frau war auch noch da.«
»Welche Frau?«
Die Tür flog auf.
»Diese Frau.«
»Wer ist das?«
»Die Besitzerin des Tierheims.«
Miss Creston stand in der Tür, starrte Daxton durch gelbe Augen an.
Eine gespaltene Zunge schob sich durch ihre ledrigen Lippen. »Wasssss hasssst du mit mir angesssstellt?«
Gerard Barrow hielt den Wagen an. Von dem Hügel vor der Stadt hatte man einen guten Blick auf Livingon. Er legte die Hand um Elin.
»Unser neues Zuhause. Eine ungewisse Zukunft, aber eine ehrliche und verbrechenslose erwartet uns.«
Hinter den Gebäuden ging die Sonne unter. Aus einem Schornstein in der Mitte der Stadt stieg grüner Rauch auf. In der Ferne verstummten die Sirenen. Die Verbrecher und Gesetzeshüter erholten sich von einem aufregenden Tag.
Elin lächelte und legte den Kopf auf Gerards Schulter. »Sieht aus, als könnte man hier ein wundervolles Leben führen.«