LIVINGON #2 – INVESTIGATIONS – FEB 2020
Im Polizeihauptquartier von Livingon zitterte Polizeichef Clifton Blake hinter seinem Schreibtisch und ignorierte den Umstand, das die Heizung defekt war. Jemand klopfte an die Tür. Detective Vincent Verity wartete nicht auf eine Antwort und betrat das Büro in einen dicken Pelzmantel gehüllt. Er warf eine Akte auf den Schreibtisch.
»Clarence Statterstot«, begann er, »hat für die Polizei gearbeitet. Ein Statistiker wie er im Buche steht. Angeblich konnte er jede Kriminalstatistik auswendig im Detail vortragen. Eine echte Bereicherung.«
Blake las in der Akte. »Klingt bisher nicht kriminell. Eher im Gegenteil. Was ist geschehen?«
»Er drehte durch. Die Statistiken gefielen ihm nicht, also begann er selbst, Verbrechen zu begehen, um sie nach seinen Vorstellungen zu verändern.«
»Klingt völlig irre.«
»Aber erfolgreich. Er begann mit ein paar Einbrüchen und steigerte sich bis hin zum Mord.«
Blake legte die Akte weg. »Und das?« Er zeigte hinter sich, wo ein Fenster einen Blick auf die Stadt bot. »Wie hat er es bewerkstelligt, alle Verbrecher gleichzeitig aus dem Knast zu holen?«
»Um ehrlich zu sein«, Verity stand auf, »würde ich mir davon selber gerne ein Bild machen.«
»Eine Vermutung?«
»Sagen wir, ich habe Ideen. Aber ich würde mich gerne mit dem Gefängnispersonal unterhalten, bevor ich endgültige Schlüsse ziehe.«
»Diese Gelegenheit, aus der Kälte zu kommen, lasse ich mir nict entgehen.« Blake holte seine Waffe aus der Schublade. »Ich fahre.«
Eine Stunde später standen Blake und Verity in einer leeren Gefängniszelle und starrten in ein Loch.
»Und niemand hat etwas gehört?« Verity befragte das Personal. Er kannte die Antworten bereits, aber suchte nach der Bestätigung seiner Theorie.
Das Personal schüttelte den Kopf.
»Wie ich dachte.« Verity nickte.
Blake wurde ungeduldig. »Wollen Sie uns vielleicht erluchten oder sollen wir noch eine Weile in das dunkle Loch glotzen?«
»Vor einiger Zeit war ich an einem Fall beteiligt, bei dem eine Gruppe von Bankräubern mit der Hilfe einer neuen Lasertechnologie Löcher unter die Tresorräume von Banken gebohrt hat. Die Banken bemerkten es erst, als die Tresore bereits leergeräumt waren. Die Laser sind völlig lautlos.«
»Woher kamen diese Laser?« Blake vermutete, die Antwort bereits zu kennen.
»Die Ermittlungen endeten in einer Sackgasse.«
»Natürlich taten sie das.« Blakes Vermutung war richtig.
»Aber über unseren Ausbrechergehilfen haben wir vielleicht eine neue Spur. Wenn wir Statterstot finden, finden wir die Laser und dann finden wir die Bankräuber.«
»Sie sagen das, als würde Statterstot in der nächsten Kneipe auf uns warten. Wir haben nicht die geringste Spur von dem Mann. Er könnte die Stadt bereits verlassen haben.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Er wird sich sein Werk aus der Nähe betrachten wollen.«
»Ihr Bullen seid wirklich nicht die Hellsten, oder?« Eine Frauenstimme kam aus einer der Zellen.
Felicia Fenix galt als die größte Ausbrecherkönigin der Welt. Die Ironie, dass sie zur Zeit die einzige Insassin des Gefängnisses von Livingon war, blieb den Polizsiten verborgen. Sie lag gemütlich auf ihrem Bett und wedelte mit einem Brief.
»Wenn ihr Breibirnen euren Job gescheit machen würdet, hätte der Ausbruch gar nicht stattgefunden.« Sie hielt Blake den Brief hin. »Statterstot hat allen Insassen bereits vor Wochen einen Brief geschrieben, in dem er den Ausbruch ankündigte.«
Blake nahm den Brief aus dem Umschlag. Er war handgeschrieben. Statterstot machte sich offensichtlich keine Sorgen darum, erwischt zu werden. Sogar eine Absendeadresse stand darauf. Blake überflog den Brief. Er handelte von einem Ausflug ans Meer. »Ich kann hier nichts von einem Ausbruchsplan finden.«
»Meine Fresse, seid ihr Streifenhörnchen dämlich. Die Botschaft ist natürlich etwas versteckt. Von oben nach unten gelesen ergeben die erste und letzte Reihe den Plan. Und bevor ihr Siplisten fragt: Das Datum ist die Absendeadresse.«
»Hausnummer 111«, las Blake. »Also ist die Adresse gefälscht und existiert überhaupt nicht?«
»Was denkst du, Meisterdetektiv?«
Blake steckte den Brief ein. »Darf ich den behalten?«
»Klar. Ich hatte nicht vor, ihm zu antworten.«
»Danke für die Hilfe, Miss …?«
»Fenix. Felicia Fenix.«
»Darf ich fragen, warum Sie noch hier sind, Miss Fenix?« Blake betrachtete das zugeschaufelte Loch in ihrer Zelle.
»Bitte, nenn mich Felicia. Sonst fühle ich mich nur alt.« Felicia setzte sich auf. »Wenn ich hier raus will, gehe ich hier raus. Ich benötige keine Hilfe von irgendeinem Wahnsinnigen, der die Stadt ins Chaos stürzen will. Hier drin ist es momentan wundervoll ruhig und entspannend. Ich haue ab, wenn die ganzen Möchtegernkriminellen mir hier drin wieder auf die Nerven gehen. Bis dahin ist es hier wie im Urlaub. Nur ohne kühle Cocktails und heiße Schnitten im Bikini.«
Blake und Verity kehrten zum Auto zurück. »Eine interessante Person«, bemerkte Blake.
»Völlig irre, wenn Sie mich fragen.« Verity schaute zu den Gefängnistürmen hoch. »Als ob sie einfach so aus dem Knast marschieren könnte, wann es ihr passt.«
»Allen anderen ist es offensichtlich gelungen.« Blake stieg ein.
Verity schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Ja, aber nur mit der Hilfe von Statterstot. Von dem wir immer noch keine Spur haben.«
»Wir sollten die Adresse auf dem Brief überprüfen. Vermutlich ist sie erfunden, aber sicher ist sicher.«
»Einen anderen Anhaltspunkt haben wir ohnehin nicht.« Verity schnallte sich an.
»Gibt es etwas neues zum Brandstifter?« Blake graute es bereits davor, wenn sich schon bald die Fälle stapeln würden und hoffte die vorhandenen so schnell wie möglich abschließen zu können.
»Bisher nicht. Ich habe Garcia den Fall übertragen. Vielleicht hat sie schon erste Ergebnisse, wenn wir zurück sind.«
Juana Garcia war weit von Ergebnissen entfernt. Sie stand in ihrem Mantel an einer Magnettafel mit zwei Fotos. Eins zeigte Commandant Whiskers, den ehemaligen Leiter der Polizeiakademie, dessen verkohlte Leiche in diesem Moment obduziert wurde. Das zweite Foto zeigte Alison Conary, Rekrutin an der Polizeiakademie, die ein Aufeinandertreffen mit dem Brandstifter überlebt hatte. Polizeichef Blake überlebte ebenfalls und war laut eigener Aussage das Hauptziel des Flammenwerfers. Garcia zitterte. Die Kälte lenkte vom Denken ab und erschwerte die Lösung des Falls. Bisher hatte sich Garcia zusammengesetzt, dass es der Feuerleger auf Polizisten abgesehen hatte. Aber warum? Wo kam er her? Wieso nutzte er ausgerechnet Feuer? Garcia hatte keine Antworten auf diese Fragen. Vielleicht konnte ihr Alison ein paar beantworten. Und sie konnte sich in der Polizeiakademie etwas aufwärmen.
Eine Flasche flog durch die Eingangstür.
Sie zerbrach in der Vorhalle.
Ein Feuerkreis setzte Tische und Vorhänge in Brand. Es wurde schlagartig warm im Polizeihauptquartier.