Zu Teil 10
Ich schaue Fey an. Sie scheint sich so unsicher wie ich zu sein, ob wir wirklich hier im Zirkuszelt stehen sollten, während ein Dompteur eine Horde Tiger durch brennende Reifen springen lässt.
Der Zirkusdirektor und die Rauhaut an seiner Seite kommen mit einigen Büchern angelatscht.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, erkennt der Direktor richtig und ist dabei, diesen Umstand zu ändern. »Mein Name ist Rullon. Ich leite diese Manege.«
Er verzichtet darauf, uns einen Händedruck anzubieten, was ihn für mich zumindest ein kleines Stück sympathischer macht. Dieses ständige Fettfingergewurschtel, wenn man jemanden kennen lernt, ging mir schon immer gegen den Strich. Wer weiß, wie oft sich die neue Bekanntschaft gerade am Arsch rumgefummelt hat, kurz bevor er mir seine versiffte Hand hin hält.
»Ich habe erfahren, dass du, liebe Fey, im Entführungsfall recherchierst und ich denke, dass ich äußerst behilflich sein kann.«
»Warum sollte ich dir trauen, Mantikor?« Fey scheint ihn zu kennen. Und nicht zu mögen.
»Liebe Fey, wir sind sicher nicht immer einer Meinung, aber in diesem Fall können wir uns gegenseitig behilflich sein. Betrachte es als eine geschäftliche Vereinbarung.«
»Du weißt genau, dass ich keine Geschäfte mit Leuten wie dir mache. Auch eine Fee hat ihren Stolz.«
»Fey. Es ist ganz einfach.« Rullon schnippt mit den Fingern und der Handlanger haut mir mal wieder eine rein, wobei mir seine Schmiergelpapierhaut die Bartstoppeln von der Wange schleift. »Entweder du hilfst mir, oder dein Freund hier stirbt. Und das ist sicher nicht in deinem Interesse.«
»Das kannst du nicht machen.« Fey ist zum ersten Mal, seit ich sie kenne, nicht die Ruhe in Person. Beunruhigend. »Ich brauche ihn. Wir brauchen ihn.«
»Ich gebe nichts auf die Menschen und das Schicksal und den ganzen Quatsch. Das weißt du genau.«
Ich spucke etwas Blut in den Sand. »Ich übrigens auch nicht«, sage ich und kriege dafür direkt noch eine geschallert. Immerhin auf der anderen Seite des Gesichts, wodurch mein Bartwuchs wieder ausgeglichen sein dürfte. »Vielleicht können wir uns einig werden«, sage ich und versuche mir die Schmerzen in der Visage nicht anmerken zu lassen.
»Vernünftige Entscheidung, mein Freund«, sagt der Direktor und holt ein Buch hervor. Er setzt sich auf einen Hocker, auf dem vor wenigen Minuten noch ein Tiger gesessen hat. »Wie ihr euch sicher schon gedacht habt, geht es um Nick. Nun, ich möchte euch etwas über ihn erzählen.«
Wir setzen uns hin. Nicht weil wir nicht mehr stehen können, sondern weil der Direktor mit einer Handbewegung klar macht, dass stehen bleiben keine Option ist. Seine dicken Finger greifen in die Brusttasche seines hässlichen Jacketts, aus dem er zu platzen droht. Er holt eine Brille hervor deren Bügel sich auseinander dehnen, als er sie über seinen kantigen Schädel schiebt.
»Dieses Buch wurde mir und meinem Bruder geschenkt, als wir Kinder waren.« Er klopft mit der Hand auf den Buchdeckel. »Und die Geschichte darin sorgte immer für, sagen wir, Auseinandersetzungen zwischen ihm und mir.
Wir gehören zu den Wächtern. Ich habe mich schnell damit abgefunden, dass es meine Bestimmung ist, dafür zu sorgen, dass die Welt im Gleichgewicht bleibt. Dass alles seinen geregelten Gang geht. Die Welt und ihre Bewohner zu beschützen ist meine Aufgabe. Und ich nehme diese Aufgabe ernst.« Er schaut Fey an. »Du weißt, dass ich keine Zurückhaltung kenne, wenn es darum geht, meine Aufgabe zu erfüllen.«
»Du wolltest hunderte Unschuldiger töten.«
»Das war notwendig. Sie stellten eine Gefahr dar.«
»Du weißt genau so gut wie ich, dass das nicht wahr ist. Die meisten haben überlebt und die Welt existiert weiterhin.«
»Dann wurden wohl genau die richtigen ins Jenseits befördert.«
»Dir ist wirklich alles recht, um deine Ziele umzusetzen, nicht wahr?«
»Meine liebe Fey, es geht hier nicht um mich. Oder dich. Oder ihn.« Er hebt nicht mal einen Finger, um auf mich zu zeigen. Vermutlich hat er mich schon abgeschrieben. Er könnte recht haben. »Es geht um das Wohle aller. Und dafür ist mir jedes Mittel recht.« Er sieht Fey an, als wollte er ihr den Kopf abbeißen. »Und dir sollte das egal sein. Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist, als mir jemand in die Quere kam.«
»Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr euch schon länger kennt«, sage ich und kriege als Antwort eine Reibeisenfaust an den Kopf.
»Aber heute, liebe Fey, können wir uns gegenseitig helfen.«
»Warum sollte ich dir helfen?«
»Weil wir den gleichen Feind haben.«
»Wen?«
»Meinen Bruder. Nick.«
»Nick ist dein Bruder? Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich.« Die Faust schmiergelt mir die Barthaare über die Wange. »Lass mich raten: Du bist adoptiert.«
Rullon hebt die Hand und verhindert so, dass mein Gesicht weiter geschmiergelt wird. »Diese ganze Sache ist viel komplexer, als du dir vorstellen kannst. Die liebe Fey hier hat dir sicher nicht alles erzählt.« Er schaut Fey an. »Ahnte ich doch. Siehst du, es gibt Regeln denen wir alle unterliegen. Für jeden gelten besondere Gesetzmäßigkeiten, an die er sich zu halten hat. Die liebe Fey beispielsweise darf dir nicht alles verraten, was du wissen musst, wenn du es nicht ausdrücklich wünschst. Sie ist eine Fee und kann dir somit zwar jeden Wunsch erfüllen, aber du musst wissen, was du wissen willst. Eine verzwickte Situation, wenn du mich fragst. Ich andererseits könnte dir alles erzählen. Aber ich habe kein Interesse daran, hier den Märchenonkel zu spielen, deshalb beschränke ich mich auf das für mich relevante.
Was ich nicht kann, ist meinen Bruder aufzuspüren und unschädlich zu machen.« Er sucht nach einer bestimmten Seite in dem Buch und hält uns ein Bild vor die Nasen. »Auf diesem Bild seht ihr die Wächter der alten Zeit. Unsere Vorfahren, wenn man es so nennen will. Zu jeder Zeit muss es genügend Wächter geben. Wenn ein Wächter abtritt, muss er durch einen neuen Wächter ersetzt werden. Diese Wächter werden schon in der Kindheit vom Schicksal bestimmt. Ich bin ein Wächter. Mein Bruder ist ein Wächter. Der Drache mit der schuppigen Haut, der dir so gerne ins Gesicht schlägt, wenn du mal wieder etwas dummes gesagt hast, ist ebenfalls ein Wächter. Und auch die liebe Fey hier ist eine Wächterin. Wir alle haben eine Aufgabe. Wir alle wachen über etwas. Die Fee wacht über die Wahrheit. Der Drache wacht über das Feuer. Der Nix wacht über das Wasser. Und so weiter.« Er legt das Buch auf seine Handfläche und balanciert es in der Luft. »Es existiert eine Art Gleichgewicht in der Welt. Wir sorgen dafür, dass dieses Gleichgewicht bestehen bleibt. Wird das Gleichgewicht zu sehr gestört …« Er lässt das Buch fallen. »… wäre das nicht gut. Nick ist dabei, dieses Gleichgewicht zu stören. Er ist von seinem Pfad abgekommen. Und deshalb müsst ihr ihn unschädlich machen.«
»Hör mal, ich bin kein Mörder. Auch wenn ich Nick schon einmal erschlagen habe. Ihr sucht euch also besser jemand anderen.«
»Oh, ihr müsst ihn nicht töten. Ihr sollt ihn nicht töten. Ihr müsst ihn nur aus dem Verkehr ziehen. Leider gibt es niemand anderen. Nick hat sich dir anvertraut. Du bist der Einzige, der ihn aufspüren kann.«
»Und warum sollten wir das tun?« Fey ist noch weniger überzeugt von der Idee als ich.
»Weil er der Mörder ist, den ihr schon die ganze Zeit sucht.«
FORTSETZUNG FOLGT IN TEIL 12