Es ist mal wieder Zeit bei diesem Mitmachprojekt – nun ja – mitzumachen. Die Pö hat sich dieses Mal das Thema Frühstück ausgesucht und ich habe natürlich mal wieder eine kleine Geschichte dazu geschrieben. Wenn ihr auch mitmachen wollt, findet ihr alle wichtigen Informationen mit einem Klick hier.
DER OBERE APFEL
Eine friedliche Stille lag über dem Schloss, dessen hohe Türme in der aufgehenden Sonne glänzten. Um diese Zeit bewegte sich im Schloss für gewöhnlich niemand, außer wenn sich jemand von einer auf die andere Seite drehte, um noch eine Stunde weiter zu schlafen. Schließlich hatte man im Schloss um diese frühe Stunde nichts zu tun. Die Arbeit wurde in der Stadt und auf den Feldern vom armen Volk erledigt, dessen Alterserwartung ohnehin im niedrigen zweistelligen Bereich lag. Der Adel und der Hofstaat waren da besser dran und sahen gar nicht ein, warum sie durch Arbeit ihre Alterserwartung senken sollten, wenn die Armen doch ohnehin nichts hatten, wofür es sich zu leben lohnte.
Ein dicker Mann schnarchte laut in einer Ecke, während ihm die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf die breite Brust fielen. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, um noch eine Stunde weiter zu schlafen. Sein Name war Edward. Jeder Mann im Schloss hieß Edward. Das war eine der Einstellungsanforderungen von König Edward, der seinen Namen so sehr liebte, dass er keine Männer an seinem Schloss duldete, die nicht Edward hießen. Wenn ein Nicht-Edward sich um einen Job am Schloss bewarb, verlor er dafür am nächsten Namenstag seinen Kopf. Und König Edward feierte seinen Namen jeden Tag. Dieser Umstand führte oft zu Verwechslungen und Verwirrungen am Schloss, wodurch ein Großteil jedes Tages damit verbracht wurde, dass sich die Leute am Schloss gegenseitig suchten, da niemand wusste, wo welcher Edward sich gerade aufhielt und wer gerade welchen Edward suchte.
Edward lag auf der Seite und genoss die Stille, die in diesem Moment unterbrochen wurde und für die übliche Verwirrung sorgte.
»Wo ist Edward!« Die Stimme des Königs hallte durch das Schloss und wurde von den kahlen Steinwänden in jede Ecke und jeden Winkel getragen, an dem sich in diesem Moment ein Edward aufhielt.
Edward wachte auf. Er wusste nicht, welcher Edward gemeint war, aber es war immer gut, wenn man dem Ruf des Königs folgte.
»Ich habe Hunger!« Die Stimme des Königs stellte klar, welcher Edward gemeint war.
Edward sprang auf und lief so schnell es sein überschüssiges Gewicht zuließ in den Speisesaal des Schlosses. Als königlicher Vorkoster war es seine Aufgabe, dem König seine Mahlzeit zu ermöglichen. Und der König liebte seine Mahlzeiten. Vielleicht noch mehr als den Namen Edward. Um genau zu sein, tat der König den ganzen Tag nichts anderes als zu essen und den Namen Edward anzupreisen.
Vorkoster Edward erreichte schnaufend den Speisesaal und stützte sich an eine Wand, um nicht zusammenzubrechen. Er war solche Sprints nicht gewohnt. König Edward saß bereits am Kopf des langen Tisches, auf dem die Speisen darauf warteten, verzehrt zu werden. Er schaute Vorkoster Edward wütend an. Der Vorkoster wusste, dass der König gerade beim Frühstück nicht viel Geduld mitbrachte und schleppte sich zum Tisch.
»Ich verhungere hier«, sagte der König und schlug sich auf den fetten Bauch. »Los, fang an zu essen. Ich verstehe diese ganze Vorkoster-Sache ohnehin nicht. Ein König sollte essen können, wann und was immer er will. Wer sollte mich schon vergiften wollen?«
»Nun ja, euer Hoheit«, sagte der königliche Berater Edward, »Ihr regiert ein ganzes Land voller Menschen, die Euch für einen fetten faulen Sack halten und glauben, dass sie ohne Euch viel besser dran wären.«
König Edward schaute das Gerippe in Form des königlichen Beraters an. Dann schaute er über den Tisch, an dem die anderen Gerippe saßen, die zu seinem Hofstaat gehörten. Außer dem König und dem Vorkoster bekam am Schloss kaum jemand die Gelegenheit Nahrung zu sich zu nehmen. Für gewöhnlich entbrannte ein Kampf auf Leben und Tod um die wenigen Reste, die Vorkoster und König zurück ließen. Dieser Kampf war selten spektakulär, da sich die Beteiligten vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnten. Selbst die Wachmänner waren nicht in der Lage ihre Schwerter und Speere zu heben, um sich einen Vorteil zu verschaffen. So ging das übrige Salatblatt meist an denjenigen, der es als erster kriechend erreichen konnte.
»Das ist eine unglaubliche Unverfrorenheit!«, rief der König. »Wenn dein Name nicht Edward wäre, würde ich dich auf der Stelle hinrichten lassen.«
»Verzeiht, euer Hoheit«, bibberte der Berater, sodass man seine Knochen nicht nur unter der Haut sehen, sondern auch klappern hören konnte, »ich gebe nur wieder, was das Volk denkt.«
»Das Volk? Die sollen froh sein, dass sie so einen gutmütigen König haben, der sie regiert. Ich könnte sie alle hinrichten lassen, weil sie nicht Edward heißen.«
»Ich weiß nicht, ob das nach dem Gesetz möglich wäre, euer Hoheit.«
»Ich bin das Gesetz in dieser Stadt!«, brüllte der König und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und ich sage das Frühstück ab. Mir ist der Appetit vergangen.«
Ein lautes Stöhnen von ausgehungerten Menschen ging durch den Saal. Der König wühlte sich umständlich von seinem Stuhl und ergriff die Hand der Königin. »Komm, Edlin. Wir gehen meinen Namen feiern und weitere Edwards machen.« Er zog die dürre Königin hinter sich her, die sehnsüchtig das Essen auf dem Tisch anstarrte.
Die anderen Anwesenden warteten, bis der König durch die Tür verschwunden war und machten sich bereit, sich auf die Speisen zu stürzen. Der König kam zurück. »Werft das Essen weg. Wenn der König nicht isst, dann isst niemand. Wenn jemand auch nur einen Bissen nimmt, wird ihm der Magen herausgeschnitten.«
»Blöhrch«, seufzten alle Bediensteten am Tisch enttäuscht und begannen, das Essen vom Tisch aus dem Fenster zu werfen.
Vorkoster Edward schlief unruhig in der folgenden Nacht. So wie jeder andere im Schloss auch. Das laute Gestöhne und Geächze des Königs, das von den Schlossmauern widerhallte, hielt alle wach. Die Angestellten saßen lange vor dem König am Frühstückstisch und versuchten, nicht mit dem Kopf auf dem leeren Teller vor sich einzuschlafen. Vorkoster Edward gesellte sich zu ihnen und stützte den schweren Kopf auf seinen dicken Arm. Alle wurden schlagartig wach, als König Edward den Saal betrat und unter schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Platz am Kopf der Tafel schlich. Mühsam setzte er sich hin.
»Seid ihr jetzt zufrieden?«, fragte er. Er erwartete keine Antwort. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages und nur wegen euch habe ich darauf verzichtet. Und mein Tag war die Hölle. Beim Versuch, neue Edwards zu machen, habe ich mir direkt den Rücken verrenkt. Auf leeren Magen liegt es sich schlecht.« Er griff nach einem Apfel.
»Euer Hoheit«, sagte der königliche Berater, »der Vorkoster hat noch nicht vorgekostet.«
»Ich kann nicht mehr warten, Edward. Und es ist nur ein Apfel. Was kann schon passieren?«
Der königliche Berater wollte die Frage beantworten, aber König Edward ließ ihn mit einer Handbewegung verstummen. Der König biss in den Apfel. Alle hielten den Atem an. Der König kaute genüsslich und schluckte. Er stockte. Er hustete. Alle atmeten erschrocken ein. Der Kopf des Königs lief rot an. Er schlug sich auf die Brust. »Nur verschluckt«, sagte er. Alle atmeten auf. Der König gönnte sich einen weiteren Bissen vom Apfel. Er kaute genüsslich und schluckte. Er stockte.
»Sollen wir Euch den Apfel vielleicht zu einem Brei klein stampfen, Euer Hoheit?«, schlug der königliche Berater vor.
Der König schaute ihn röchelnd an. Er ließ den Apfel fallen. Das Obst rollte unter den Tisch. Der König rutschte von seinem Stuhl hinterher. Alle schauten sich an.
»Meint ihr, er macht nur einen Spaß?«, fragte Hofnarr Edward.
König Edward war nicht für seine Späße bekannt. Der königliche Berater schaute unter den Tisch. Blut lief aus der Nase des Königs. Er regte sich nicht. Der königliche Berater stieß sich den Kopf an der Tischplatte. »Gift«, sagte er und rieb sich den kahlen Schädel, der ihn noch mehr wie ein wandelndes Skelett aussehen ließ.
Alle atmeten erschrocken ein und begannen, sich gegenseitig zu beschuldigen. »Es war Edward«, sagten sie alle und jeder meinte einen anderen Edward.
Vorkoster Edward hörte sich die Anschuldigungen eine Weile an und versuchte, aus dem Gewirr an Schreien, Erklärungsversuchen und sinnlosem Gemurmel etwas herauszuziehen, dass den Fall klären konnte. Er verstand kein Wort, also stand er auf und bat die Anwesenden, sich zu beruhigen, damit sie gemeinsam dem Mord auf den Grund gehen konnten. Alle verstummten. »Es war Edward«, rief der Hofnarr und zeigte auf den Vorkoster.
Aus Mangel an Alternativen stimmten alle zu. Jemand, der versuchte, einen Fall mit Nachdenken zu klären galt prinzipiell als verdächtig und wollte sicher nur von sich selbst ablenken.
»Ich war es nicht«, sagte Vorkoster Edward abwehrend.
»Wer denn sonst?« Der Hofnarr zog seine bunte Hose hoch, die ihm regelmäßig über die abgemagerten Hüften rutschte. »Du wolltest das ganze Essen für dich, damit du noch fetter wirst.«
Alle waren der Meinung, dass dieses Motiv Sinn ergab. »Köpft ihn!«, riefen alle in Einigkeit und griffen nach ihren Brotmessern.
»Ich fürchte, mit diesem stumpfen Besteck würde es ewig dauern, ihm den Kopf abzuschneiden«, sagte der Hofnarr enttäuscht. »Wo ist der Henker? Er hat eine scharfe Axt.«
Henker Edward trat vor und griff nach seiner scharfen Axt. Das Gewicht des Hinrichtungsinstruments übermannte ihn und zog seinen dürren Körper zu Boden.
»Können wir das vielleicht ausdiskutieren, bevor ihr alle einen Schwächeanfall erleidet?« Vorkoster Edward appellierte an die Vernunft des Hofstaates und stieß auf Abweisung. Vernunft war zu keiner Zeit weit verbreitet im Schloss gewesen. Die wütenden Gerippe kamen näher. Vorkoster Edward griff nach einer Weintraube und hielt sie abwehrend vor sich. Der knochige Mob hielt inne.
»Ganz ruhig, Edward.« Hofnarr Edward betrachtete sich als Anführer des Hinrichtungskomitees. »Leg die Weintraube weg.«
»Nein«, sagte Vorkoster Edward entschlossen und warf die Traube. Dann noch eine. Und noch eine. Weintrauben prallten von den ausgehungerten Angestellten ab. Eine der Trauben flog in einem Bogen und landete direkt im Mund des königlichen Beraters.
Edward spuckte die Traube aus und kratzte sich mit den Fingern auf der Zunge rum. »Du willst uns alle töten«, nuschelte er mit den Fingern im Mund. »Moment mal.« Er nahm die Finger aus dem Mund. »Die Weintrauben sind nicht vergiftet.«
Alle schüttelten verwirrt den Kopf. Dann erkannten sie ihre Gelegenheit und sammelten die Weintrauben auf, um endlich ihre leeren Mägen zu füllen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte der Hofnarr kauend, »warum wurde nur der eine Apfel vergiftet? Wer konnte wissen, dass der König ausgerechnet den Apfel ganz oben aus der Obstschale essen würde.«
Der obere Apfel. Ein Gedankengang formte sich im Gehirn von Vorkoster Edward. Der obere Apfel. König Edward aß nie den oberen Apfel. Der obere Apfel. Vorkoster Edward sprang auf, wenn man bei seinem Gewicht von springen sprechen kann. »Der giftige Apfel war für mich!«, rief er.
»Wer sollte dich schon vergiften wollen?«, fragte Hofnarr Edward.
»Nun ja«, begann Wache Edward, »der Vorkoster isst eine ganze Menge. Wenn er weg wäre, bliebe vermutlich mehr für uns alle übrig.«
»Nein, so funktioniert das nicht«, sagte der königliche Berater. »Es muss immer einen Vorkoster geben. Aber es wäre natürlich trotzdem besser, ihn zu ermorden, als den König. Die Strafe für Königsmord ist eindeutig schlimmer als die Strafe für Vorkostermord.«
»Was ist die Strafe für Vorkostermord?«, wollte Hofnarr Edward wissen.
»Man muss seinen Posten übernehmen, damit direkt ein neuer Vorkoster da ist.«
»Hat Vorkoster Edward auch jemanden ermordet, um an seinen Posten zu kommen?«
»Nein, der vorherige Vorkoster starb bei dem Versuch, Taubeneier aus einem Nest zu stehlen. Man sollte denken, bei seinen Ausmaßen wäre er im Fenster stecken geblieben. Aber die Fenster hier sind breiter als sie auf den ersten Blick erscheinen.«
»Du scheinst ausgezeichnet informiert zu sein«, stellte Vorkoster Edward fest.
»Natürlich. Information ist mein Beruf.«
»Wie wird man neuer König?«, fragte der Hofnarr.
»Es gibt eine Thronfolge. Aber da der König keine Kinder hatte, die er Edward hätte nennen können, also ist sein Bruder der nächste König.«
»Der König hatte einen Bruder?«
»Ja, aber niemand weiß, wo er sich aufhält.«
»Ich dachte, du weißt alles.«
»Er ist sicher ausfindig zu machen.« Der königliche Berater fühlte sich auf einem Wissenshoch und wollte jetzt nicht einbrechen, wo er doch die Gelegenheit hatte, mit seinen Informationen den ganzen Hofstaat zu beeindrucken.
»Wie würdest du dabei vorgehen?«, fragte Vorkoster Edward.
»Ich würde in Erfahrung bringen, wo er sich zuletzt aufgehalten hat und von dort eine Spur verfolgen, die mich zu ihm führt.«
»Wirklich schlau. Würdest du ihm etwas mitbringen? Zum Beispiel einen Kuchen? Wie backt man einen Kuchen?«, wollte Hofnarr Edward wissen.
»Ein Kuchen ist immer ein gutes Geschenk. Ihn zu backen ist gar nicht so schwierig. Man braucht nur die richtigen Zutaten und einen heißen Ofen.«
Henker Edward trank einen Schluck Wein. »Weißt du auch, wie man Wein macht?«
»Natürlich weiß ich das.« Der königliche Berater lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und genoss den Wissenserguss, den er über die anderen ausgoss. »Man zerstampft Trauben und mischt Alkohol bei.«
»Wie mischt man tödliches Gift?«, fragte der Vorkoster.
»Nun, das ist gar nicht so schwer. Alles Notwendige dafür findet man in der Küche.« Der königliche Berater brach ab.
»Du weißt also, wie man Gift mischt und wie man an den Posten des Vorkosters kommt«, kombinierte Vorkoster Edward.
Alle hatten aufgehört zu kauen und schauten den königlichen Berater an.
»Was ist die Strafe für Königsmord, Edward?«, fragte Hofnarr Edward spöttisch.
Die Vierteilung des königlichen Beraters wurde vom Volk auslassend zelebriert. Es gab viele Speisen und Getränke und alle waren fröhlich. Fortan galt der Name Edward als verrufen und durfte im ganzen Land nicht mehr genutzt werden. Vorkoster Edhelm, Hofnarr Edwud und alle anderen Angestellten behielten ihre Posten und wurden für die Aufklärung des Königsmords ausgezeichnet. Der neue König mochte glücklicherweise keine Äpfel und überließ die Obstkörbe stets seiner Gefolgschaft.