„Mach was!“ – mit Frühstück

Es ist mal wieder Zeit bei diesem Mitmachprojekt – nun ja – mitzumachen. Die Pö hat sich dieses Mal das Thema Frühstück ausgesucht und ich habe natürlich mal wieder eine kleine Geschichte dazu geschrieben. Wenn ihr auch mitmachen wollt, findet ihr alle wichtigen Informationen mit einem Klick hier.

 

DER OBERE APFEL

Eine friedliche Stille lag über dem Schloss, dessen hohe Türme in der aufgehenden Sonne glänzten. Um diese Zeit bewegte sich im Schloss für gewöhnlich niemand, außer wenn sich jemand von einer auf die andere Seite drehte, um noch eine Stunde weiter zu schlafen. Schließlich hatte man im Schloss um diese frühe Stunde nichts zu tun. Die Arbeit wurde in der Stadt und auf den Feldern vom armen Volk erledigt, dessen Alterserwartung ohnehin im niedrigen zweistelligen Bereich lag. Der Adel und der Hofstaat waren da besser dran und sahen gar nicht ein, warum sie durch Arbeit ihre Alterserwartung senken sollten, wenn die Armen doch ohnehin nichts hatten, wofür es sich zu leben lohnte.

Ein dicker Mann schnarchte laut in einer Ecke, während ihm die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf die breite Brust fielen. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, um noch eine Stunde weiter zu schlafen. Sein Name war Edward. Jeder Mann im Schloss hieß Edward. Das war eine der Einstellungsanforderungen von König Edward, der seinen Namen so sehr liebte, dass er keine Männer an seinem Schloss duldete, die nicht Edward hießen. Wenn ein Nicht-Edward sich um einen Job am Schloss bewarb, verlor er dafür am nächsten Namenstag seinen Kopf. Und König Edward feierte seinen Namen jeden Tag. Dieser Umstand führte oft zu Verwechslungen und Verwirrungen am Schloss, wodurch ein Großteil jedes Tages damit verbracht wurde, dass sich die Leute am Schloss gegenseitig suchten, da niemand wusste, wo welcher Edward sich gerade aufhielt und wer gerade welchen Edward suchte.

Edward lag auf der Seite und genoss die Stille, die in diesem Moment unterbrochen wurde und für die übliche Verwirrung sorgte.

»Wo ist Edward!« Die Stimme des Königs hallte durch das Schloss und wurde von den kahlen Steinwänden in jede Ecke und jeden Winkel getragen, an dem sich in diesem Moment ein Edward aufhielt.

Edward wachte auf. Er wusste nicht, welcher Edward gemeint war, aber es war immer gut, wenn man dem Ruf des Königs folgte.

»Ich habe Hunger!« Die Stimme des Königs stellte klar, welcher Edward gemeint war.

Edward sprang auf und lief so schnell es sein überschüssiges Gewicht zuließ in den Speisesaal des Schlosses. Als königlicher Vorkoster war es seine Aufgabe, dem König seine Mahlzeit zu ermöglichen. Und der König liebte seine Mahlzeiten. Vielleicht noch mehr als den Namen Edward. Um genau zu sein, tat der König den ganzen Tag nichts anderes als zu essen und den Namen Edward anzupreisen.

Vorkoster Edward erreichte schnaufend den Speisesaal und stützte sich an eine Wand, um nicht zusammenzubrechen. Er war solche Sprints nicht gewohnt. König Edward saß bereits am Kopf des langen Tisches, auf dem die Speisen darauf warteten, verzehrt zu werden. Er schaute Vorkoster Edward wütend an. Der Vorkoster wusste, dass der König gerade beim Frühstück nicht viel Geduld mitbrachte und schleppte sich zum Tisch.

»Ich verhungere hier«, sagte der König und schlug sich auf den fetten Bauch. »Los, fang an zu essen. Ich verstehe diese ganze Vorkoster-Sache ohnehin nicht. Ein König sollte essen können, wann und was immer er will. Wer sollte mich schon vergiften wollen?«

»Nun ja, euer Hoheit«, sagte der königliche Berater Edward, »Ihr regiert ein ganzes Land voller Menschen, die Euch für einen fetten faulen Sack halten und glauben, dass sie ohne Euch viel besser dran wären.«

König Edward schaute das Gerippe in Form des königlichen Beraters an. Dann schaute er über den Tisch, an dem die anderen Gerippe saßen, die zu seinem Hofstaat gehörten. Außer dem König und dem Vorkoster bekam am Schloss kaum jemand die Gelegenheit Nahrung zu sich zu nehmen. Für gewöhnlich entbrannte ein Kampf auf Leben und Tod um die wenigen Reste, die Vorkoster und König zurück ließen. Dieser Kampf war selten spektakulär, da sich die Beteiligten vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnten. Selbst die Wachmänner waren nicht in der Lage ihre Schwerter und Speere zu heben, um sich einen Vorteil zu verschaffen. So ging das übrige Salatblatt meist an denjenigen, der es als erster kriechend erreichen konnte.

»Das ist eine unglaubliche Unverfrorenheit!«, rief der König. »Wenn dein Name nicht Edward wäre, würde ich dich auf der Stelle hinrichten lassen.«

»Verzeiht, euer Hoheit«, bibberte der Berater, sodass man seine Knochen nicht nur unter der Haut sehen, sondern auch klappern hören konnte, »ich gebe nur wieder, was das Volk denkt.«

»Das Volk? Die sollen froh sein, dass sie so einen gutmütigen König haben, der sie regiert. Ich könnte sie alle hinrichten lassen, weil sie nicht Edward heißen.«

»Ich weiß nicht, ob das nach dem Gesetz möglich wäre, euer Hoheit.«

»Ich bin das Gesetz in dieser Stadt!«, brüllte der König und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und ich sage das Frühstück ab. Mir ist der Appetit vergangen.«

Ein lautes Stöhnen von ausgehungerten Menschen ging durch den Saal. Der König wühlte sich umständlich von seinem Stuhl und ergriff die Hand der Königin. »Komm, Edlin. Wir gehen meinen Namen feiern und weitere Edwards machen.« Er zog die dürre Königin hinter sich her, die sehnsüchtig das Essen auf dem Tisch anstarrte.

Die anderen Anwesenden warteten, bis der König durch die Tür verschwunden war und machten sich bereit, sich auf die Speisen zu stürzen. Der König kam zurück. »Werft das Essen weg. Wenn der König nicht isst, dann isst niemand. Wenn jemand auch nur einen Bissen nimmt, wird ihm der Magen herausgeschnitten.«

»Blöhrch«, seufzten alle Bediensteten am Tisch enttäuscht und begannen, das Essen vom Tisch aus dem Fenster zu werfen.

Vorkoster Edward schlief unruhig in der folgenden Nacht. So wie jeder andere im Schloss auch. Das laute Gestöhne und Geächze des Königs, das von den Schlossmauern widerhallte, hielt alle wach. Die Angestellten saßen lange vor dem König am Frühstückstisch und versuchten, nicht mit dem Kopf auf dem leeren Teller vor sich einzuschlafen. Vorkoster Edward gesellte sich zu ihnen und stützte den schweren Kopf auf seinen dicken Arm. Alle wurden schlagartig wach, als König Edward den Saal betrat und unter schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Platz am Kopf der Tafel schlich. Mühsam setzte er sich hin.

»Seid ihr jetzt zufrieden?«, fragte er. Er erwartete keine Antwort. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages und nur wegen euch habe ich darauf verzichtet. Und mein Tag war die Hölle. Beim Versuch, neue Edwards zu machen, habe ich mir direkt den Rücken verrenkt. Auf leeren Magen liegt es sich schlecht.« Er griff nach einem Apfel.

»Euer Hoheit«, sagte der königliche Berater, »der Vorkoster hat noch nicht vorgekostet.«

»Ich kann nicht mehr warten, Edward. Und es ist nur ein Apfel. Was kann schon passieren?«

Der königliche Berater wollte die Frage beantworten, aber König Edward ließ ihn mit einer Handbewegung verstummen. Der König biss in den Apfel. Alle hielten den Atem an. Der König kaute genüsslich und schluckte. Er stockte. Er hustete. Alle atmeten erschrocken ein. Der Kopf des Königs lief rot an. Er schlug sich auf die Brust. »Nur verschluckt«, sagte er. Alle atmeten auf. Der König gönnte sich einen weiteren Bissen vom Apfel. Er kaute genüsslich und schluckte. Er stockte.

»Sollen wir Euch den Apfel vielleicht zu einem Brei klein stampfen, Euer Hoheit?«, schlug der königliche Berater vor.

Der König schaute ihn röchelnd an. Er ließ den Apfel fallen. Das Obst rollte unter den Tisch. Der König rutschte von seinem Stuhl hinterher. Alle schauten sich an.

»Meint ihr, er macht nur einen Spaß?«, fragte Hofnarr Edward.

König Edward war nicht für seine Späße bekannt. Der königliche Berater schaute unter den Tisch. Blut lief aus der Nase des Königs. Er regte sich nicht. Der königliche Berater stieß sich den Kopf an der Tischplatte. »Gift«, sagte er und rieb sich den kahlen Schädel, der ihn noch mehr wie ein wandelndes Skelett aussehen ließ.

Alle atmeten erschrocken ein und begannen, sich gegenseitig zu beschuldigen. »Es war Edward«, sagten sie alle und jeder meinte einen anderen Edward.

Vorkoster Edward hörte sich die Anschuldigungen eine Weile an und versuchte, aus dem Gewirr an Schreien, Erklärungsversuchen und sinnlosem Gemurmel etwas herauszuziehen, dass den Fall klären konnte. Er verstand kein Wort, also stand er auf und bat die Anwesenden, sich zu beruhigen, damit sie gemeinsam dem Mord auf den Grund gehen konnten. Alle verstummten. »Es war Edward«, rief der Hofnarr und zeigte auf den Vorkoster.

Aus Mangel an Alternativen stimmten alle zu. Jemand, der versuchte, einen Fall mit Nachdenken zu klären galt prinzipiell als verdächtig und wollte sicher nur von sich selbst ablenken.

»Ich war es nicht«, sagte Vorkoster Edward abwehrend.

»Wer denn sonst?« Der Hofnarr zog seine bunte Hose hoch, die ihm regelmäßig über die abgemagerten Hüften rutschte. »Du wolltest das ganze Essen für dich, damit du noch fetter wirst.«

Alle waren der Meinung, dass dieses Motiv Sinn ergab. »Köpft ihn!«, riefen alle in Einigkeit und griffen nach ihren Brotmessern.

»Ich fürchte, mit diesem stumpfen Besteck würde es ewig dauern, ihm den Kopf abzuschneiden«, sagte der Hofnarr enttäuscht. »Wo ist der Henker? Er hat eine scharfe Axt.«

Henker Edward trat vor und griff nach seiner scharfen Axt. Das Gewicht des Hinrichtungsinstruments übermannte ihn und zog seinen dürren Körper zu Boden.

»Können wir das vielleicht ausdiskutieren, bevor ihr alle einen Schwächeanfall erleidet?« Vorkoster Edward appellierte an die Vernunft des Hofstaates und stieß auf Abweisung. Vernunft war zu keiner Zeit weit verbreitet im Schloss gewesen. Die wütenden Gerippe kamen näher. Vorkoster Edward griff nach einer Weintraube und hielt sie abwehrend vor sich. Der knochige Mob hielt inne.

»Ganz ruhig, Edward.« Hofnarr Edward betrachtete sich als Anführer des Hinrichtungskomitees. »Leg die Weintraube weg.«

»Nein«, sagte Vorkoster Edward entschlossen und warf die Traube. Dann noch eine. Und noch eine. Weintrauben prallten von den ausgehungerten Angestellten ab. Eine der Trauben flog in einem Bogen und landete direkt im Mund des königlichen Beraters.

Edward spuckte die Traube aus und kratzte sich mit den Fingern auf der Zunge rum. »Du willst uns alle töten«, nuschelte er mit den Fingern im Mund. »Moment mal.« Er nahm die Finger aus dem Mund. »Die Weintrauben sind nicht vergiftet.«

Alle schüttelten verwirrt den Kopf. Dann erkannten sie ihre Gelegenheit und sammelten die Weintrauben auf, um endlich ihre leeren Mägen zu füllen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte der Hofnarr kauend, »warum wurde nur der eine Apfel vergiftet? Wer konnte wissen, dass der König ausgerechnet den Apfel ganz oben aus der Obstschale essen würde.«

Der obere Apfel. Ein Gedankengang formte sich im Gehirn von Vorkoster Edward. Der obere Apfel. König Edward aß nie den oberen Apfel. Der obere Apfel. Vorkoster Edward sprang auf, wenn man bei seinem Gewicht von springen sprechen kann. »Der giftige Apfel war für mich!«, rief er.

»Wer sollte dich schon vergiften wollen?«, fragte Hofnarr Edward.

»Nun ja«, begann Wache Edward, »der Vorkoster isst eine ganze Menge. Wenn er weg wäre, bliebe vermutlich mehr für uns alle übrig.«

»Nein, so funktioniert das nicht«, sagte der königliche Berater. »Es muss immer einen Vorkoster geben. Aber es wäre natürlich trotzdem besser, ihn zu ermorden, als den König. Die Strafe für Königsmord ist eindeutig schlimmer als die Strafe für Vorkostermord.«

»Was ist die Strafe für Vorkostermord?«, wollte Hofnarr Edward wissen.

»Man muss seinen Posten übernehmen, damit direkt ein neuer Vorkoster da ist.«

»Hat Vorkoster Edward auch jemanden ermordet, um an seinen Posten zu kommen?«

»Nein, der vorherige Vorkoster starb bei dem Versuch, Taubeneier aus einem Nest zu stehlen. Man sollte denken, bei seinen Ausmaßen wäre er im Fenster stecken geblieben. Aber die Fenster hier sind breiter als sie auf den ersten Blick erscheinen.«

»Du scheinst ausgezeichnet informiert zu sein«, stellte Vorkoster Edward fest.

»Natürlich. Information ist mein Beruf.«

»Wie wird man neuer König?«, fragte der Hofnarr.

»Es gibt eine Thronfolge. Aber da der König keine Kinder hatte, die er Edward hätte nennen können, also ist sein Bruder der nächste König.«

»Der König hatte einen Bruder?«

»Ja, aber niemand weiß, wo er sich aufhält.«

»Ich dachte, du weißt alles.«

»Er ist sicher ausfindig zu machen.« Der königliche Berater fühlte sich auf einem Wissenshoch und wollte jetzt nicht einbrechen, wo er doch die Gelegenheit hatte, mit seinen Informationen den ganzen Hofstaat zu beeindrucken.

»Wie würdest du dabei vorgehen?«, fragte Vorkoster Edward.

»Ich würde in Erfahrung bringen, wo er sich zuletzt aufgehalten hat und von dort eine Spur verfolgen, die mich zu ihm führt.«

»Wirklich schlau. Würdest du ihm etwas mitbringen? Zum Beispiel einen Kuchen? Wie backt man einen Kuchen?«, wollte Hofnarr Edward wissen.

»Ein Kuchen ist immer ein gutes Geschenk. Ihn zu backen ist gar nicht so schwierig. Man braucht nur die richtigen Zutaten und einen heißen Ofen.«

Henker Edward trank einen Schluck Wein. »Weißt du auch, wie man Wein macht?«

»Natürlich weiß ich das.« Der königliche Berater lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und genoss den Wissenserguss, den er über die anderen ausgoss. »Man zerstampft Trauben und mischt Alkohol bei.«

»Wie mischt man tödliches Gift?«, fragte der Vorkoster.

»Nun, das ist gar nicht so schwer. Alles Notwendige dafür findet man in der Küche.« Der königliche Berater brach ab.

»Du weißt also, wie man Gift mischt und wie man an den Posten des Vorkosters kommt«, kombinierte Vorkoster Edward.

Alle hatten aufgehört zu kauen und schauten den königlichen Berater an.

»Was ist die Strafe für Königsmord, Edward?«, fragte Hofnarr Edward spöttisch.

Die Vierteilung des königlichen Beraters wurde vom Volk auslassend zelebriert. Es gab viele Speisen und Getränke und alle waren fröhlich. Fortan galt der Name Edward als verrufen und durfte im ganzen Land nicht mehr genutzt werden. Vorkoster Edhelm, Hofnarr Edwud und alle anderen Angestellten behielten ihre Posten und wurden für die Aufklärung des Königsmords ausgezeichnet. Der neue König mochte glücklicherweise keine Äpfel und überließ die Obstkörbe stets seiner Gefolgschaft.

„Mach was!“ – Mit einem Lieblingslied

Diesen Monat geht es bei Herba und Poes „Mach was!“ um Lieblingslieder. Das ist etwas schwierig. Denn ein richtiges Lieblingslied habe ich eigentlich nicht. Das ändert sich bei mir quasi alle paar Tage. Und oft kann ich dann Lieder, die ich vorher oft gehört habe, erstmal lange Zeit nicht mehr hören, weil sie mir auf den Sack gehen. Also nicht gerade eine Qualifikation für einen Lieblingssong. Zur Zeit höre ich ganz gerne „Suppers Ready“ von Genesis. Also mit Peter Gabriel. Nicht diese grauenhafte Popgrütze unter Phil Collins. Ich habe kurz überlegt, aber „Suppers Ready“ erzählt für sich schon eine Geschichte und ist zudem ein episches musikalisches Meisterwerk, dem keine meiner schwachsinnigen Geschichten auch nur ansatzweise gerecht werden könnte.

Allerdings habe ich vor einigen Jahren mal eine kleine Geschichte veröffentlicht, die zumindest durch den Titel eines Songs inspiriert wurde. Lustigerweise habe ich die Geschichte im Rahmen von genau diesem Spaß hier zum Thema „Tiere“ damals auf den Filmschrottplatz geklatscht. Ich habe diese Geschichte mal etwas überarbeitet, um sie jetzt und hier erneut zu veröffentlichen (ja, es ist bereits jetzt so weit, dass ich mich selbst wiederhole). Der inspirierende Song heißt übrigens „Penguins In The Desert“ und stammt von der Band Dredg. Mit dem eigentlichen Lied hat das Folgende zwar nicht wirklich was zu tun, aber immerhin ist der Titel der gleiche. Das muss dann halt hier reichen.

Pinguine in der Wüste

Flapflapflapflapflap … die Rotorblätter des Helikopters zerschnitten die heiße Luft … flapflapflapflapflap … die heiße Luft stieg vom Sand hinauf, der sich über die Landschaft erstreckte … flapflapflapflapflap … auf dem linken Auge sah der Hubschrauberpilot sehr gut … flapflapflapflapflap … auf dem Rechten auch … flapflapflapflapflap … mit seinen guten Augen erblickte der Pilot einen Geier über der Wüste kreisen … flapflapflapflapflap … der Helikopter flog direkt auf den Geier zu … flapflapflapflapflap … der Geier machte keine Anstalten, seine Flugbahn zu ändern … flapflapflapflapflap … der Pilot reagierte und ließ den Hubschrauber sinken … flapflapflapflapflap … der Helikopter tauchte unter dem Geier weg … flapflapflapflapflaaaaaahhhhhkrrrchz … Federn segelten durch die Luft … flupflupflupflupflup … der Pilot verlor die Kontrolle über das Fluggerät … flopflopflopflopflop … der Helikopter sank schnell Richtung Wüstensand … flop … flop …flop … der Aufprall schleuderte Sand in die Luft … flp … und erschlug eine neugierige Hyäne … fp … f … Stille.

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Frirp. Der Pilot öffnete seine guten Augen. Frirp. Frirp. Er sah Sand. Frirp. Watsch. Sehr viel Sand. Watsch. Watsch. Mit seinen ebenfalls hervorragend funktionierenden Ohren hörte er die Schritte von flachen Füßen. Frirp. Er öffnete seinen Gurt. Seine Hüfte schmerzte. Er drückte den Arm in die Seite. Frirp. Watsch. Hopp. Frchz. Er drehte sich um und blickte in den Rückraum des Helikopters. Der Käfig, in dem sich die lebendige Ladung befunden hatte, war bei dem Aufprall zerstört worden. Der Pilot erhob sich mühsam aus seinem Sitz und schlurfte unter Schmerzen in den Rückraum. Unter seinen Schuhen knirschte ein Gemisch aus Sand und Glasscherben. Die Tür im hinteren Bereich des Helikopters stand offen. Besser gesagt, es war keine Tür mehr da. Nur eine große Öffnung. Draußen im Sand sah er Fußspuren, die vom Helikopter wegführten. Er griff nach einer Wasserflasche und trank. Er beschloss, die restlichen Wasserflaschen mitzunehmen. Er kletterte aus der Tür in den Wüstensand, um den Spuren zu folgen. Er fand die Tür des Helikopters. Darunter befanden sich die Überreste eines Tieres. Vermutlich war es eine Hyäne gewesen.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel herunter, als dächte sie, in der Wüste sei es noch nicht trocken genug. Der Pilot dachte darüber nach, ob es in der Wüste überhaupt trocken genug sein kann. Wenn es nicht trocken wäre, wäre es schließlich keine Wüste. Die einzige Flüssigkeit in der Nähe waren die Wasserflaschen in der Hand und der Schweiß auf der Stirn des Piloten. Er hielt sich die verletzte Seite. Er kämpfte sich durch den weichen Sand, wie durch knöchelhohen Schnee. Schnee wäre ihm lieber gewesen. Bestimmt auch der Ladung, die er verfolgte. In der Ferne sah der Pilot die beiden Tiere als schwarze Punkte hinter einer hohen Düne verschwinden. Er setzte die Verfolgung fort. Mit jedem Schritt schien die Sonne heißer auf ihn herab zu brennen. Der Pilot leerte die zweite Wasserflasche. Der ursprüngliche Plan, mit der Flüssigkeit sparsam umzugehen, war früh gescheitert. Er sah zurück. Der Helikopter war nicht in Sichtweite. Er hatte schon einige Meter im Sand zurückgelegt. Er war bereits weiter gelaufen, als er gedacht hatte. Er beschloss, die Verfolgung fortzusetzen, in der Hoffnung, dass ihn die Tiere zu Wasser führten. Schließlich mussten auch Tiere trinken. Besonders Tiere, die diese Hitze nicht gewohnt waren. Die Schmerzen in der Seite wurden schlimmer. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ihm ein Geier mit seinem Schnabel in die Rippen hacken. Der Pilot blickte in den Himmel, wo die Sonne brannte und kein Geier kreiste. Es war wohl kaum möglich, dass er den einzigen Geier der Wüste mit dem Helikopter erlegt hatte. Vermutlich warteten sie irgendwo im Schatten darauf, dass der Trottel, der hier alleine mitten durch die Wüste torkelt, zu schwach wird, um seinen Weg fortzusetzen. Ihr Wunsch würde bald in Erfüllung gehen, wenn er nicht Wasser fand. Er stolperte weiter. Eine Düne hinauf. Einige Minuten später sackte er auf dem Gipfel der Düne auf die Knie. Die Wüste erstreckte sich unendlich in alle Richtungen. Er sah die Pinguine, die sich aneinander kuschelten. Sie saßen im Sand vor einer Palme. Unter der Palme im Schatten befand sich ein See. Eine Oase. Rettung. Der Pilot mühte sich auf die Beine und fiel die Düne hinab. Wie ein Fass rollte er immer schneller und landete im kühlen Wasser. Er ignorierte die kuschelnden Pinguine und genoss die unerwartete Erfrischung.

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Der Boden fühlte sich ungewöhnlich an. Nicht glatt. Nicht kalt. Nicht feucht. Die Pinguine sahen sich ratlos an und frirpten. Sie fragten sich, was dieses komische gelbe Zeug ist, das überall herumlag. Sie fragten sich, ob das Eis unter dem gelben Zeug lag. Sie pickten etwas mit dem Schnabel in dem gelben Zeug herum. Sie fanden kein Eis. Die helle Scheibe am Himmel schien heller als zu Hause. Aber sie war vertraut. Die Pinguine schauten sich an und frirpten in Übereinstimmung. Sie watschelten los. Das Laufen fiel schwer auf dem unbekannten Untergrund. Einer der Pinguine lief voran. Der Kleinere hinterher, bemüht nicht den Anschluss zu verlieren, während er sich neugierig umsah. In seinem jungen Leben hatte er nicht viel gesehen. Eigentlich nur Eis, Wasser und das Innere eines flappenden Ungetüms, in dessen Bauch er sich bis vor Kurzem befunden hatte.
Der größere Pinguin blieb stehen und frirpte, um dem jüngeren Pinguin zu verstehen zu geben, dass er nicht so trödeln soll. Hinter dem ungewöhnlich verfärbten Eisberg vor ihnen würde sicher Wasser sein. Und Eis. Der junge Pinguin frirpte fröhlich und schloss zu dem großen Pinguin auf. In freudiger Erwartung hüpften sie nebeneinander den Berg hinauf. Auf Eis zu hüpfen war schon nicht einfach. Aber auf diesem gelben Zeug gestaltete sich jeder Hüpfer als zusätzlich mühsam. Erleichtert frirpten sie, als sie die Spitze des Berges erreicht hatten. Sie schauten was dahinter lag. Sie schauten sich an. Sie frirpten. Sie schauten noch einmal genau hin, was dahinter lag.
Hinter dem verfärbten Eisberg lag das Pinguinparadies. Wasser, so weit das Auge reichte. Eisberge. Eisschollen. Eisrutschen. Alles, was das Pinguinherz begehrt. Die Pinguine sprangen auf eine Eisscholle und blickten in die Ferne. Sie kuschelten sich aneinander während sie über das Wasser trieben.

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Die Hyäne lachte. Die Hyäne lachte gerne. Die Hyäne lachte gerne und oft. Viel mehr hatte sie auch nicht zu tun. Bis auf Lachen und Nahrung suchen, gab es in der Wüste nicht viele Beschäftigungen. Allerdings konnte die Nahrungssuche sich schon mal über den ganzen Tag erstrecken. Dann hatte die Hyäne nicht viel zu lachen. Dann stapfte sie den ganzen Tag durch die Wüste und ärgerte sich, dass sie keine Zeit zum Lachen und im Schatten liegen hatte. Der heutige Tag hatte aber Potenzial, lustig und sättigend zu werden. Sie lugte hinter einem Baum hervor und sah zwei komische Vögel durch den Sand stolpern. Solche Vögel hatte sie noch nie gesehen. Die Hyäne kannte nur Geier und die watschelten nicht ziellos durch die Wüste. Geier kreisten ziellos über der Wüste. Und sie ließen sich nicht von Hyänen fangen. Die Hyäne hatte das auf die harte Tour gelernt. Einen ganzen Tag lang hatte sie einen Geier verfolgt, der verletzt schien. Am Ende stellte sich heraus, dass der Geier nur mit der Hyäne gespielt hatte. An dem Tag hatte der Geier gelacht und die Hyäne war hungrig nach Hause gegangen. Einige Meter hinter den seltsamen Vögeln folgte ein zu groß geratener Primat, dem die Haare ausgefallen waren. Er torkelte ähnlich unbeholfen wie die seltsamen Vögel hinter diesen her. Die Hyäne lachte. Eine vielversprechendere Situation, um die Nahrungsbeschaffung schnell hinter sich zu bringen und den Rest des Tages mit Lachen verbringen zu können würde sich kaum finden. Die Hyäne folgte dem möglichen Mittagessen in sicherem Abstand. Sabbernd sah sie zu, wie der Primat sich eine Düne hochquälte. Die komischen Vögel hatten die Düne ebenfalls überquert. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Essen zubereitet war. Die Feuerkugel am Himmel leistete ihren Beitrag dazu, den Vorgang zu beschleunigen. Die Hyäne schlich die Düne hinauf. Dahinter würde sicher ein Festmahl auf sie warten. Die Hyäne sabberte in den Sand, bei dem Gedanken an all das leckere frische Fleisch. Sie erreichte den Gipfel der Düne. Auf der anderen Seite bot sich ein lustiges Bild. Die Hyäne lachte. Die Vögel standen aneinandergekuschelt im Sand und frirpten. Der Primat kniete daneben und schmierte sich den heißen Sand ins Gesicht. Der Hyäne war klar, dass sie nur warten musste, bis sich die Beute nicht mehr regte. Sie hatte Geduld. Die Hyäne sah sich um. Die andere Hyäne war nicht zu sehen. Heute musste sie sich also nicht mit ihr um die Nahrung streiten. Die Hyäne setzte sich hin und sabberte. Sie schaute zu, wie der Primat in den Sand fiel und reglos liegen blieb. Sie schaute zu wie die beiden Vögel ein letztes Mal leise frirpten. Dann fielen auch sie reglos in den Sand. Die Hyäne stand auf. Langsam stapfte sie die Düne hinab. Sie stand zwischen den reglosen Körpern. Die Sonne brannte heute besonders heiß. Die Hyäne lachte.

„Mach was!“ – Mit Bibliothek

Dieses Mal ist das Thema bei Poe und Herbas „Mach was!“ quasi genau richtig für einen selbsternannten Schriftsteller. Denn wir gehen in die BIBLIOTHEK. Ich hätte mich gerne noch mehr in dieser Geschichte ausgetobt, aber ich versuche immer, die Geschichten hier kurz zu halten, damit sie auch gelesen werden. Vielleicht greife ich die Idee aber noch mal auf, da sich damit noch mehr machen lässt, denke ich.

Zwischen den Regalen


Eddie schloss die große Tür zur Stadtbibliothek auf und haderte. Seit Jahrzehnten hatte niemand mehr das Gebäude betreten. Damals musste die Stadtbibliothek von Lebingen geschlossen werden, da niemand bereit war, Geld für die Bibliothek aufzubringen. Man hielt er für sinnlos, da in der Stadt zu neunzig Prozent Analphabeten lebten. Stattdessen sparte man das Geld lieber, um es im städtischen Casino auszugeben, damit jeder in der Stadt etwas davon hat. Als Eddie an den Bürgermeister von Lebingen herangetreten war, um darum zu bitten, dass er die Stadtbibliothek neu eröffnen dürfe, hatte er schallendes Gelächter geerntet. Nachdem sich der Bürgermeister beruhigt hatte machte er mit einem lockeren Handwischer klar, dass es ihm völlig egal war, was mit der Stadtbibliothek passierte und Eddie den Schlüssel zur Bibliothekstür zugeworfen.

An Eddies Seite stand seine beste Freundin Lorihn. Natürlich war es ihre Idee gewesen, die Stadtbibliothek neu zu eröffnen. Sie war die vermutlich belesenste Frau in der Stadt. Nein, sie war vermutlich die belesenste Person in der Stadt. Allerdings hatte sie berechtigte Zweifel gehabt, ob der Bürgermeister einer Frau den Schlüssel zur Bibliothek ohne eine Gegenleistung aushändigen würde. Je höher der politische Rang in der Stadt war, desto testosterongesteuerter war dessen Inhaber. Eddie hatte sie gefragt, da sie wusste, dass er sich zu allem überreden ließ. Er war ein netter Kerl, aber er konnte einfach nicht nein sagen, obwohl er wusste, dass ihn das andauernd in Schwierigkeiten bringen konnte. Immerhin las er viel, wenn auch ausschließlich Geschichten über Geister und Monster. Dadurch hatte er so eine Art Grundfurcht entwickelt, die sich durch eine Dauernervösität bemerkbar machte und ihn veranlasste, zu jeder Sekunde das schlimmste zu befürchten.

»Hier war bestimmt so lange niemand drin, weil der Ort verflucht ist«, sagte er.

Lorihn und Eddie gingen langsam zwischen den hohen verstaubten Regalen entlang. Die Regale erstreckten sich scheinbar endlos und verschwanden in der Dunkelheit, die sie umgab. Eddie und Lorihn suchten mit Taschenlampen nach einem Lichtschalter.

»Quatsch«, entgegnete Lorihn.

»Denk doch mal darüber nach. Warum sollte man ein so riesiges Gebäude einfach so ungenutzt lassen? Niemand hat sich hier rein getraut. Vermutlich treibt hier der Bücherwurm sein Unwesen.«

»Der Bücherwurm?«

»Ja, ein gigantischer Wurm, der sich durch die Bücherregale frisst und alle Besucher gleich mit.«

»Ich glaube kaum, dass wir uns darum Sorgen machen müssen.«

Sie gingen weiter zwischen den Regalen entlang. Es fiel ihnen schwer, nicht einfach stehen zu bleiben und in einem der unzähligen Bücher zu blättern.

»Ich habe das Gefühl, dass wir den Lichtschalter niemals erreichen werden«, sagte Eddie und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach oben, wo sich in der Finsternis leicht die Umrisse eines Kronleuchters abzeichneten.

»Vielleicht sollten wir uns aufteilen. Dann finden wir ihn vermutlich schneller.«

»Tolle Idee. So fangen Horrorgeschichten immer an. Aber du hast ja nichts zu befürchten. Das hübsche Mädchen überlebt am Ende immer.«

Lorihn lächelte. »Ist es nicht etwas langweilig, wenn alles so vorhersehbar ist?«

»Nicht, wenn man sich vorher schon mehrmals in die Hose macht vor Angst. Da ist es schon fast eine Erleichterung. Du würdest es wissen, wenn du endlich mal eine Horrorgeschichte lesen würdest.«

»Ich sage dir was: Wenn du den Lichtschalter vor mir findest, lese ich eine von deinen Horrorgeschichten.«

Eddie grinste und nickte zustimmend. Er bog in einen der Seitengänge ab und ließ Lorihn allein.

Lorihn leuchtete mit ihrer Taschenlampe umher. Sie musste zugeben, dass es wirklich reichlich unheimlich war, sich alleine durch die Dunkelheit zu tasten. Hinter jedem Regal schien ein Schatten darauf zu warten, sie erschrecken zu können. Hin und wieder kam sie an einem kleinen Tisch vorbei, an dem man in Ruhe ein Buch lesen konnte. Ein alter Bücherkarren stand vor einem der Regale. Lorihn las die Titel auf den Bücherrücken. Es handelte sich offenbar größtenteils um Literatur über das Mittelalter. Ritter und Könige spielten darin eine große Rolle. Sicher nicht uninteressant und mit größerem geschichtlichen Hintergrund als Eddies Horrorgeschichten.

Der Kronleuchter flackerte auf. Ein oder zwei Birnen brannten durch, aber trotzdem wurde die Bibliothek erhellt und Lorihn konnte die Taschenlampe ausschalten. Sie dachte bereits jetzt mit Grauen daran, dass sie eine Horrorgeschichte lesen musste. Und das, wo sie doch diese unglaubliche Auswahl an wirklich interessanten Büchern zur Verfügung hatte. Sie beschloss, sich die kürzeste Horrorgeschichte auszusuchen, damit sie sich so schnell wie möglich auf den Literaturüberschuss stürzen konnte, der vor ihr lag.

Eddie kam zwischen den Regalen hindurch angeschlendert. »Endlich sieht man mal was. Wirklich beeindruckender Anblick.«

»Wo hast du den Lichtschalter gefunden?«

»Ich dachte, du hättest das Licht angeschaltet.«

»Lass den Quatsch. Das ist nicht witzig. Also, wo ist der Lichtschalter?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung.« Eddie schaute sich nervös um. »Es sind die Bücherwürmer«, flüsterte er unheimlich.

»Ach, jetzt sind es schon mehrere Würmer.«

»Bestimmt tausende.« Eddie machte eine Pause. »Ich kann sie hören.«

»Quatsch. Das entspringt nur deiner Fantasie.«

»Wenn in einer Bibliothek die Fantasie nicht zum Leben erweckt werden kann, wo dann?«, fragte eine Stimme.

Eddie und Lorihn schreckten auf und drehten sich um. Hinter ihnen stand ein alter Mann mit grauem Bart in einem weißen Anzug.

»Wer sind Sie?«, fragte Lorihn überrascht.

»Ich bin der Bibliothekar.«

»Was machen Sie hier? Die Bibliothek ist seit Jahrzehnten geschlossen.«

»Ich wache hier.«

»Wachen?«

»Diese Bibliothek ist etwas besonderes. Natürlich ist jede Bibliothek etwas besonderes, aber diese hier ist ganz besonders besonders. Hier werden Geschichten wahr. Fantasien erwachen zum Leben. Wenn ihr in einem dieser unzähligen Bücher lest, werden die Bilder, die in eurem Kopf entstehen, real.«

»So ein Quatsch.«

Ein lautes Brüllen hallte zwischen den Bücherregalen hervor. Lorihn schaute sich erschrocken um. »Was war das?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Bibliothekar setzte sich entspannt an einen der Tische und drehte ein Buch in seiner Hand. »Was habt ihr gelesen?«

»Nichts«, antwortet Lorihn überzeugt. »Nichts«, sagte sie erneut mit etwas weniger überzeugendem Klang. »Nichts«, seufzte sie und drehte sich zu Eddie um. »Was hast du gelesen, Eddie?«

»Nun ja, da lag dieses Buch. Es hatte einen komplett schwarzen Umschlag und keinen Titel. Es hat mich sozusagen angesaugt wie das Licht.«

»Das kann nichts Gutes bedeuten. Was stand in dem Buch?«

»Ich weiß nicht mehr genau. Es begann mit einem Monster, dass mit seinen langen Giftzähnen den Leuten das Blut aussaugt. Es hatte ein Dutzend Augen und vier Arme. Und es brüllte dauernd laut.«

Ein weiteres lautes Brüllen hallte durch die Bibliothek. Es klang näher, als beim letzten Mal. »So ungefähr brüllte es dauernd.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte Lorihn den Bibliothekar.

»Ihr könntet Hilfe holen.«

»Wen sollen wir gegen ein Monster zu Hilfe holen? In der Stadt gibt es keine Monsterjäger.«

»Aber hier gibt es welche.« Der Bibliothekar schwang die Hand in einem Halbkreis herum. »Jedes dieser Bücher beinhaltet Helden und Bösewichte. Protagonist und Antagonist. Jeder böse Part hat einen guten Gegenpol. Gegen jede Bedrohung gibt es einen helfenden Helden. Lest. Nutzt eure Fantasie.« Der Bibliothekar legte das Buch zurück auf den Tisch, stand auf und verschwand zwischen den Regalen.

Das Brüllen war jetzt ganz nah. Eddie und Lorihn schauten sich an. Dann schauten sie den Gang entlang, der sich zwischen den Bücherregalen vor ihnen erstreckte. Ein Stampfen ließ die Regale erzittern. Bücher hüpften aus den Regalen. Ein grüner Fuß mit langen Krallen kam hinter einem der Regale hervor und trat einen der Tische weg. Ein zweiter Fuß stieß einen Bücherstapel um. Das Monster stand direkt vor ihnen. Nur wenige Meter entfernt. Es schaute Lorihn und Eddie mit seinen zwölf Augen an. Eddie schluckte hörbar. »Und jetzt?«

Das Monster riss sein riesiges Maul auf und zeigte seine langen Zähne, von denen der Speichel tropfte. Das Brüllen blies Lorihns Frisur durcheinander.

»Lauf«, rief sie.

Sie liefen zwischen den Regalen hindurch. Sie hörten das Stampfen hinter sich, aber trauten sich nicht sich umzudrehen. Nach wenigen Metern entschieden sich die Flüchtenden für unterschiedliche Richtungen. Lorihn spürte, dass sie alleine war. Sie schaute sich um. Weder Eddie noch das Monster waren zu sehen. Sie blieb stehen und stützte sich an einem Bücherkarren ab, um Luft zu holen. Ein Brüllen ließ sie das Luftholen vergessen. Das Monster schien weiter weg zu sein. Es ließ sich schwer einordnen, von wo das Brüllen kam und wie weit die Entfernung war. Sie wusste ja nicht mal, wie groß die Bibliothek überhaupt war. Lorihn guckte nach oben. Vielleicht konnte sie sich einen Überblick verschaffen, wenn sie auf eins der Bücherregale kletterte. Lorihn war nicht die sicherste Kletterin, aber die Regale standen fest auf dem Boden und boten genügend Stellen, um Halt zu finden. Lorihn zog Bücher aus dem Regal und ließ sie zu Boden fallen und trat in die freien Stellen im Regal. Während sie kletterte, fragte sie sich, wie oft jemand wirklich Bücher aus den oberen Regalreihen gelesen hatte. Vermutlich standen ganz oben die Bücher, die ohnehin nie ausgeliehen wurden. Die Lexika und veraltete Wörterbücher. Lorihn erreichte das Ende des Regals und schaute vorsichtig über den Rand des Regals. Der Anblick war überwältigend. Die Bibliothek war scheinbar tatsächlich endlos. Regale über Regale mit Büchern über Büchern erstreckten sich endlos in alle Richtungen. Es war, als wären alle Bücher der Welt hier versammelt. Das Monster und Eddie waren nicht zu sehen. Der Bibliothekar ebenfalls nicht aber das hatte sie auch nicht erwartet. Sie überlegte, ob sie nach Eddie rufen sollte, aber befürchtete, dass sie so nur die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich ziehen würde.

»Was machst du da oben?«, rief Eddie stattdessen von unten.

Lorihn schaute nach unten und sah Eddie, der nicht größer als eine Maus zu sein schien. Sie war wirklich sehr hoch geklettert.

»Wo ist das Monster?«, fragte Lorihn und kletterte das Regal hinunter.

»Ich habe es abgehängt. Aber ich glaube nicht, dass es uns in Ruhe lassen wird.«

»Wir brauchen Hilfe.«

»Was schlägst du vor?«

»Ich schätze, wir sollten den Rat des Bibliothekars befolgen und uns Hilfe aus den Büchern holen.«

Eddie schaute in den Bücherkarren. »Mittelalter«, sagte er. »Ein Ritter könnte sicher gegen das Monster kämpfen. Die haben schließlich auch mit Drachen gekämpft.«

»Historisch zwar völliger Quatsch aber der Versuch ist es wert. Fang an zu lesen.«

Eddie zog ein Buch aus dem Karren und schlug es auf. Er begann zu lesen. Nach einigen Sätzen hörten sie Schritte. Eddie legte das Buch weg.

»In der Schänke, lieg ich in der Tränke«, sang eine lallende Stimme. Ein betrunkener Mann in bunter Kleidung und mit Mütze auf dem Kopf torkelte auf Lorihn und Eddie zu. »Prosit auf das Bier, deswegen bin ich hier«, sang der Mann.

»Wer ist das?«, fragte Lorihn.

»Sein Name ist Jacop.«

»Und wie soll der uns helfen? Was hast du da wieder gelesen?«

»Entschuldige bitte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Protagonist in dem Buch ein besoffener Barde ist.«

»Brüder, legt die Arbeit nieder, und schenk mir einen ein«, sang Jacop der Barde. Er hob die Laute von seiner Schulter und begann darauf etwas, das nicht ansatzweise an Musik erinnerte, zu spielen.

Ein lautes Brüllen veranlasste ihn aufzuhören, sich ängstlich umzugucken und zwischen den Regalen zu verschwinden.

»Das war ja nicht so erfolgreich«, stellte Lorihn fest. »Lass mich mal versuchen.« Sie griff nach einem Buch im Regal.

»Beeil dich«, drängte Eddie. »Das Monster ist in der Nähe.«

Lorihn las einige Sätze. Ein lautes Stimmengewirr unterbrach sie. Einige Sekunden später wühlte sich eine Horde Wikinger durch den Gang. Viele Haare und viele Felle schienen ein Gewirr zu bilden, aus dem lange Schwerter und Äxte hervorragten. Vor Lorihn und Eddie blieben sie stehen.

»Hm, schönes Mädchen«, sagte der scheinbare Anführer, »wo sind wir hier?«

»Wir brauchen eure Hilfe.« Lorihn kam direkt auf den Punkt. »Ein Monster verfolgt uns.«

»Sicher, schönes Mädchen. Aber vorher musst du etwas für uns tun.« Der Wikinger kam näher.

Lorihn wich zurück. Sie befürchtete, dass sie ein noch schlimmeres Monster erschaffen hatte. Der Wikinger fasste sie fest an der Schulter. »Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben.«

»Ein Prosit auf die Rittersleute.« Der betrunkene Barde torkelte um die Ecke. »Ich will mich betrinken heute.« Der Barde erblickte die Wikinger und blieb stehen. Er kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf vor. Ein Lächeln formte sich in seinem Gesicht. Er hob die Laute und begann erneut zu singen. »Ihr erscheint mir als feine Brüder, legt eure Waffen nieder, lasst uns nach dem Biere suchen, ich will Weib, Gesang und etwas Kuchen.«

Die Wikinger schauten den Barden an. Sie schauten sich an. Sie nickten sich zu. Erfreut schrien sie auf und schlossen sich dem Barden an. Sie sangen und suchten nach Bier. Sie verschwanden zwischen den Regalen und ließen Lorihn und Eddie alleine zurück.

»Ich habe das Gefühl, dass das so nicht funktioniert«, erkannte Eddie richtig.

»Du hast recht. Wir müssen wohl selbst kämpfen.«

»Was. Bist du verrückt? Das Monster zerfetzt uns in der Luft.«

»Ich habe eine Idee.« Lorihn schaute sich um. Auf einem der Tische lag ein Kugelschreiber. Sie griff nach einem Buch im Regal und schlug die erste Seite auf. Wie üblich, war die Seite blank und beschreibbar. Lorihn setzte den Kugelschreiber an und schrieb: »Das zwölfaugige Monster schaute den Helden an, der in seiner strahlenden Rüstung da stand und auf den Angriff wartete. Er hob sein Schwert und betrachtete sich selbst in der Klinge. Er strich sein Haar zurück und lächelte dem Monster zu. Das Monster brüllte und wedelte mit seinen vier Armen. Der furchtlose Held hob sein Schwert und stürmte auf das Monster zu. Der Name des Helden war Eddie.«

Eddie schaute an sich herab. Sein Körper wurde von einer Rüstung verborgen, die im Licht glänzte. In seinen Händen hielt er Schwert und Schild. Er schaute Lorihn erschrocken an. »Was hast du getan?«

»Ich habe dich zum Helden gemacht.« Sie hielt ihm das Buch hin. »Hier, jetzt musst du etwas über mich schreiben.«

»Was?«

»Mach mich zu einer Kriegerin, oder so. Dann treten wir gemeinsam gegen das Monster an.«

Eddie nahm das Buch und den Kugelschreiber. Er schaute Lorihn an. Dann warf er den Stift und das Buch so weit weg, wie er konnte. »Nein«, sagte er.«Ich mache das alleine.«

Lorihn wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Sie nickte ihm zu. Er hob sein Schwert und verschwand zwischen den Regalen. Nach einiger Zeit hörte sie das Brüllen des Monsters. Gefolgt von Kampfgeräuschen.

»Gute Arbeit.« Der Bibliothekar stand hinter Lorihn. »Er hat das Monster besiegt.«

»Wirklich?« Lorihn zeigte ein halbherziges Lächeln.

»Du weißt, dass er es nicht überlebt hat.«

Lorihn nickte und wischte sich eine Träne weg.

»Du kannst ihn jederzeit wiedersehen. Du hast jetzt nichts mehr zu befürchten. Die Bibliothek gehört dir.« Der Bibliothekar ging den Gang zwischen den Regalen entlang. Er öffnete die große Doppeltür der Bibliothek. Grelles Tageslicht drang herein. Er verschwand in dem Licht und ließ Lorihn alleine in der Bibliothek zurück.

Lorihn schaute sich um. Nichts bewegte sich. Alles war still. Sie griff nach einem Buch und begann zu lesen.

„Mach was!“ – Mit der Farbe Gelb

Natürlich gibt es auch dieses Jahr wieder die Mitmachaktion für Kreative, von Herba und Pö. Und da ich mich für kreativ halte und meine Mutter auch sagt, dass ich kreativ bin, was bedeutet, dass das stimmen muss, mache ich natürlich wieder mit.

Das Thema dieses Mal lautet:

Die Farbe Gelb

Dazu gibt es – wie eigentlich immer – eine Geschichte aus der fiktiven Stadt Lebingen. Übrigens ist das eine fiktive Stadt in einer fiktiven Welt. Also haltet euch bitte nicht mit historischer Akkuratesse (heißt das so?) auf. In Lebingen ist alles zu jederzeit möglich.

Gelbes Fieber

Akindo stand auf der Reling der Yoitabi, ließ die frische Meeresluft durch sein schwarzes Haar wirbeln und atmete tief ein. Wie in den letzten Tagen üblich, roch es nach Fisch. Er konnte es kaum erwarten, endlich in Europa anzukommen und neue Gerüche kennenzulernen. Und vor allem den Fischgeruch aus der Nase zu kriegen. In Japan gab es täglich Fisch. Auf dem Schiff gab es täglich Fisch. Er wollte etwas Neues. Und wenn er es selbst erlegen musste. Hauptsache kein Fisch. Er war gespannt, was die Stadt Lebingen ihm zu bieten hatte. Sie galt als eine der fortschrittlichsten Städte der Welt. Im Endeffekt bedeutete das, dass in ihr verhältnismäßig wenig Leute täglich auf der Straße abgestochen wurden.

Die Sonne schien auf den Hafen herab, der nur noch wenige Minuten entfernt lag. Akindo würde gleich seine ersten Schritte auf europäischem Boden machen. Damit hätte er bereits den dritten Kontinent bereist. Das konnten nur die wenigsten Menschen von sich behaupten. Außer Bootskapitänen und deren Besatzung kamen die Leute nicht viel herum. Sie hatten wichtigere Dinge zu tun. Felder pflügen. Burgen bauen. Einfallende Horden abwehren.

Akindo hatte schon früh beschlossen, dass das nicht das Leben war, das er haben wollte. Er wollte nicht wie sein Vater ein Fischer werden, der den Rest seines Lebens damit verbrachte, in toten Meeresfrüchten rumzupulen. Er wollte die Welt und ihre Möglichkeiten entdecken. Zugegeben, die Welt bot weniger Möglichkeiten, als er vermutet hatte. Der kleine Umweg über Afrika hatte gezeigt, dass es den Menschen überall gleich beschissen ging. Immerhin hatte er den sandigen Kontinent betreten und somit mehr gekriegt, als er bei seiner Abfahrt erwartet hatte. Den Abstecher hatten sie nur gemacht, weil Professor Wong unbedingt eine Kiste Mücken mitnehmen wollte. Akindo hatte nicht gefragt, wozu er eine Kiste mit Mücken braucht. Er hatte Professor Wong erst auf dem Schiff kennengelernt und festgestellt, dass er zwar ein interessanter, aber auch äußerst eigenwilliger Charakter war.

Nur kurze Zeit später stellte Akindo fest, wie eigenwillig und stumm Professor Wong tatsächlich war. Aus Kostengründen teilte er sich ein Zimmer in einer heruntergekommenen Herberge mit dem alten Mann, der die meiste Zeit damit verbrachte, seine gelben Finger zu nikotinieren, indem er eine Zigarette nach der anderen rauchte. Während den Zügen an den Kippen beschwerte er sich über den Verlust seiner Kiste voller Mücken. Akindo traute sich immer noch nicht zu fragen, was er mit den Mücken vorgehabt hatte. Er vermutete, dass er vorhatte, aus Nikotin ein Mückenabwehrmittel zu entwickeln. Oder herauszufinden, wie lange es dauerte, bis Mücken in einem komplett von Zigarettenqualm vernebelten Raum voller gelber Tapeten das Zeitliche segneten. Akindo war sich sicher, das seine Zeit bald kommen würde, wenn er nicht an die frische Luft käme und ging zum Marktplatz. Von frischer Luft zu sprechen, war zwar etwas optimistisch, aber nach einigen Minuten hatte man sich daran gewöhnt und gewöhnte sich an den Modergeruch, der in den Straßen lag wie die Obdachlosen, die vermutlich schon bald den Geruch verstärken würden. In dem Viertel, in dem er mit dem Professor untergekommen war, hielt man offensichtlich nichts von Reinlichkeit und Hygiene. Gastfreundschaft war noch weniger zu erwarten. Auch wenn Akindo die Bewohner freundlich grüßte, wurde er nur schief angeschaut. Er ging etwas schneller, da er befürchtete, er könnte sonst im Unrat ertränkt werden, einfach nur, weil er sich zu nett für diese Gegend verhielt.

Auf dem Markt herrschte das erwartete Aufkommen von Menschen aller Klassen, jeden Alters und allen Geschlechtern. Schausteller unterhielten die Massen. Leute in Kostümen führten eine Art Theaterstück auf. So weit Akindo das verstehen konnte, ging es darum, wie man einen Menschen auf möglichst brutale Weise von seinen Innereien befreien konnte, die hier durch ein rotes Seil und einen Eimer zermatschter Kirschen dargestellt wurden. Die Zuschauer liebten es offensichtlich und jubelten jeder Kirsche einzeln zu.

Akindo widmete sich lieber den Marktständen, an denen sich Händler und Kunden über den sinnvollsten Preis für halbvergammeltes Obst stritten. Einige der Früchte hatte Akindo zuvor nie gesehen. Er kramte in seiner Tasche nach etwas Kleingeld und entschied, ein paar außergewöhnliche Exemplare zu kaufen, die so aussahen, als würde man nicht direkt Magenkrämpfe nach dem Verzehr kriegen, weil ihr Verfallsdatum schon seit Wochen überschritten war. Er ging zu einem der Stände, verscheuchte die Fliegen von einer Kiste, damit er darunter das Obst erkennen konnte. Die Fliegen drehten eine Runde und setzten sich auf eine andere Kiste. Vor Akindo surrte ein Schwarm Mücken durch die Luft. Vermutlich waren es die Mücken des Professors. Akindo beachtete sie nicht weiter und kaufte eine handvoll gelber Früchte aus der Kiste. Er hielt sich nicht mit langen Verhandlungen auf. Er wusste ohnehin nicht, was der Wert des Obstes wirklich war und der Wert des Europageldes war ihm auch nicht klar. Der Professor hatte versucht, ihm zu erklären, wie er die Währungen umrechnet, aber er war nicht gut darin und hatte sich seit seinem Aufenthalt in der Stadt darauf beschränkt zu schätzen, wie viel Wert er in der Hand hielt. Bisher hatte das immer funktioniert. Vermutlich bezahlte er immer viel zu viel und die Markthändler rieben sich schon die Hände, wenn sie ihn kommen sahen.

Er verabschiedete sich freundlich von dem Händler und handelte sich einen der üblichen Blicke ein, die diese Freundlichkeit ständig in der Stadt hervorrief. Der Händler schaute Akindo eigenartig an. Dann öffnete er seinen Mund und spuckte eine dunkle Flüssigkeit aus. Er warf Akindo einen hilflosen Blick mit seinen gelblichen Augen zu. Blut lief aus seiner Nase. Er begann zu zittern und brach zusammen. Um Akindo herum begannen mehr und mehr Leute es dem Händler gleich zu tun. Immer mehr Menschen fielen zitternd und schwarzes Blut spuckend zu Boden. Akindo schaute sich nervös um. Am Boden sterbende Menschenmassen waren vermutlich auch in Europa kein gutes Zeichen. Japans Hauptstadt hatte erst vor wenigen Jahren eine große Pockenepidemie überstanden. Europa hatte ebenfalls bereits eine lange Geschichte von Ausbrüchen unterschiedlicher Krankheiten, die die hiesigen Ärzte vor Rätsel stellten. Akindo hielt es für das beste, zurück zum Professor zu gehen.

Lebingen stand unter Quarantäne. Eine Epidemie von gelbem Fieber hatte die Hälfte der Bevölkerung in wenigen Tagen ausgerottet. Niemals hatte eine Seuche so schnell zugeschlagen. Akindo und Professor Wong saßen auf ihrem Zimmer. Akindo schob den Vorhang vor einem Fenster zur Seite und schaute hinunter auf die Straße. Schwarz gekleidete Gestalten, die ihre Gesichter hinter Schnabelmasken verbargen, streunten durch die leeren Straßen. Einer zog einen Karren hinter sich her, auf dem leblose Körper aufgestapelt wurden. Hin und wieder hielten sie an und warfen einen weiteren Körper auf den Karren. Akindo ließ den Vorhang zurücksinken und schaute Professor Wong an, der in der Ecke auf einem Stuhl saß und eine Zigarette rauchte. Er hatte behauptet, dass die Mücken für die Epidemie verantwortlich sein könnten. Auf die Frage, warum er eine Kiste Mücken mitgebracht hatte, bekam Akindo keine richtige Antwort. Zu Forschungszwecken, hatte Professor Wong gesagt. Was auch immer das bedeuten mochte. Seit dem Ausbruch schien er kein Interesse mehr an der Forschung zu haben. Immerhin hatte er offenbar genug Tabak für Jahre im Gepäck, damit ihm nicht langweilig werden würde. Ein lautes Pochen ließ Akindo aufschrecken. Bevor er sich fragen konnte, woher das Geräusch kam, flog die Zimmertür aus ihren Angeln und Gestalten in schwarzen Kutten und Pestmasken betraten den Raum. Ohne ein Wort zu sagen, gingen sie auf Professor Wong und Akindo zu.

Akindo versuchte die Fesseln an seinen Händen zu lösen. Die Pestmasken verstanden es, einen guten Knoten zu knüpfen. Das Seil lockerte sich kein Stück. Er schaute neben sich. Professor Wong stand seelenruhig da, ebenfalls an einen Stab gefesselt. Beide standen auf aufgestapeltem Holz. Die Pestmasken waren sich einig, dass nur die beiden Asiaten für den Fluch verantwortlich sein konnten, der über der Stadt lag. Die Männer mit der gelben Haut hatten die gelbe Seuche gebracht, die die Haut und die Augen eines jeden gelb werden ließ. Das Urteil für dieses Verbrechen war schnell gefällt worden. Ohne Prozess und ohne Akindo und Professor Wong eine Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen, waren die Scheiterhaufen aufgebahrt worden. Schnabelmasken mit brennenden Fackeln standen vor ihnen und warteten darauf, dass sie das Holz entzünden durften. Akindo vermutete, dass sie darauf warteten, dass die Pestmaske, die aus dem dicken Buch in seinen Händen vorlas, fertig war. Wenn er das komplette Buch vorlesen wollte, hätte er noch Tage Zeit, um sich zu befreien. Auf dieses Glück wollte er sich allerdings nicht verlassen. Er rubbelte das Seil an dem Pfahl auf und ab. Professor Wong machte weiterhin keine Anstalten, irgendetwas unternehmen zu wollen. Akindo fasste den Beschluss, ihn sich selbst zu überlassen. Im Idealfall hatte er hinterher ein Zimmer für sich alleine.

Der Vorleser sagte »Amen« und schlug das Buch zu. Er nickte den Pestmasken mit den Fackeln zu. Die näherten sich dem aufgestapeltem Holz. Akindo rubbelte schneller an seinen Seilen herum als je zuvor. Aber sie waren zu fest und zu dick. Es gab keine Möglichkeit sich zu befreien. Die Fackeln kamen näher. Akindo schaute Professor Wong an, der weiterhin seelenruhig an seinen Pfahl gefesselt da stand. Vermutlich war er sogar eingeschlafen. Außer rauchen und schlafen hatte er ohnehin nichts gemacht, seit sie in Lebingen angekommen waren. Vermutlich hatte er sich den Professoren-Titel selbst gegeben. Akindo konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, wie dieser ketterauchende Langschläfer jemals irgendetwas auf die Reihe gekriegt haben könnte. Er hätte sich gewünscht, wenigstens an der Seite von jemandem zu sterben, der kein totaler Langweiler war und zumindest einen Versuch unternehmen würde, sich selbst und eventuell auch Akindo zu befreien.

Die Fackeln kokelten das Holz an. Der stechende Geruch stieg Akindo in die Nase. Immerhin besser als Fisch. Akindo schloss die Augen und atmete tief ein, so lange er noch nicht in eine schwarze Wolke des Todes eingehüllt war. Er hörte ein Geräusch und öffnete die Augen wieder. Das Geräusch war ein Tritt gegen eine Fackel gewesen, die eine der Pestmasken in Brand gesetzt hatte. Die Pestmaske kreischte laut und taumelte über den leeren Marktplatz. Akindo schaute sich überrascht um. Professor Wong stand inmitten der Pestmasken und trat und schlug um sich wie ein Shaolinmönch auf Klosterfreigang. Pestmasken flogen umher. Schwarze Umhänge rissen. Nach wenigen Sekunden stand nur noch der Professor. Er ging um Akindos Pfahl herum und trennte mit einem Handkantenschlag die Fesseln. Mit einem kurzen Blick gab er dem Jungen zu verstehen, dass es Zeit war, Lebingen zu verlassen.

Ein Mückenschwarm surrte über die Pestmasken hinweg und verfolgte die asiatischen Besucher auf dem Weg zur nächsten Stadt.

„Mach was!“ – Mit Geistern

Als ich gestern auf der Arbeit saß und wie immer versuchte, mich auf Dinge zu konzentrieren, die absolut nichts mit meiner stupiden, nervtötend langweiligen Kackarbeit zu tun haben, kam mir plötzlich ein Gedanke. „Ich muss dringend hier raus“, dachte ich. „Ich brauche einen neuen Job. Einen der mich nicht täglich einem Amoklauf näher bringt.“ Aber das nur so nebenbei. Denn mir kam noch ein weiterer Gedanke. Nämlich eine Idee zu einer Geschichte für Herbas und Poes „Mach was! – Mit Geistern“. Also habe ich mich gestern nach Feierabend hingesetzt, gekotzt bei dem Gedanken, dass ich am nächsten Tag wieder in den Kackladen muss, und dann angefangen zu schreiben. Das Ergebnis ist sicher nicht perfekt, aber mehr war in der kurzen Zeit dann halt nicht mehr drin.

Eine Schneefestgeschichte

Der erste Schnee rieselte auf Lebingen hinunter und blieb auf den Dächern der Altbauten liegen, die aneinandergereiht im heruntergekommenen Stadtteil Winding standen. Hier lebten die Armen und Kranken und Hungrigen, die sich keine Medizin oder Nahrung leisten konnten. Für sie alle leitete der Schnee eine lange Zeit der Kälte ein, der sie sich nur mit Hilfe von löchrigen Decken und nassem Feuerholz entziehen konnten.

Eberhard Skruhtsch hingegen schaute mit Freude zu, wie sich der Schnee auf seiner Fensterbank anhäufte. Für ihn bedeutete der Winter eine hervorragende Einnahmequelle. Eberhard lebte in Winding weil die Mieten so günstig waren und er hier ungestört an neuen Ideen feilen konnte, mit deren Hilfe es ihm möglich war sein Vermögen zu vermehren. Seine größte Schöpfung war das Schneefest, das er im letzten Jahr ausgerufen hatte. Die Bewohner von Lebingen, ob arm oder reich, waren immer auf der Suche nach einer guten Gelegenheit ihr Geld zu verprassen und sich im besten Fall dabei zu besaufen. Glühweinstände und Lebkuchengeschäfte boten im Winter die perfekte Gelegenheit dazu. Das erste Schneefest war ein Riesenerfolg gewesen. Eberhard rieb sich die Hände und dachte an den Profit, den er in diesem Jahr machen würde. Er schaute hinunter auf die Straße. An einer brennenden Mülltonne stand eine Gruppe von Obdachlosen in alte Lumpen gekleidet und versuchte, das Feuer in Gang zu halten, indem sie teile ihrer Kleidung hineinwarfen. Was für ein kläglicher Anblick. Eberhard wandte sich ab und setzte sich an den warmen Kamin, in dem ein prächtiges Feuer brannte. Er warf noch einen Holzscheit nach. Der Geruch von Mahagoni erfüllte den Raum. Eberhard heizte nur mit dem feinsten Holz, das man für Geld kaufen konnte. Er überlegte, ob er noch etwas Bambus nachwerfen sollte, aber entschied, damit noch etwas zu warten. Er starrte in die Flammen, dachte über das viele Geld nach, das ihm das Schneefest bescheren würde und döste in seinem Sessel ein.

Ein knackendes Geräusch weckte Eberhard aus seinen Träumen von Ruhm, Reichtum und Macht – also allem, was er bereits hatte. Vor dem Kamin stand eine Gestalt und stocherte mit einem Schürhaken in der Glut herum. Das Holz knackte, wenn die Flammen wieder Besitz von ihm ergriffen.

»Was machst du in meiner Wohnung?«, fragte Eberhard wütend.

Die Gestalt drehte sich um. Es war ein Junge, der, in ein weißes Bettlaken gewickelt, vor ihm stand und grinste. »O, du bist wach. Wurde auch Zeit.«

»Was machst du mit meinem Schürhaken?«

»Dein Feuer drohte auszugehen.«

»Was machst du mit meinem Feuer?« Eberhard stand auf. »Hau ab, Junge, bevor ich dir ein paar scheuer und dich in die Flammen stoße.«

»Mann, du bist echt ein Arschloch. Jakob Harley hat nicht untertrieben.«

»Jakob? Woher kennst du ›Kob‹?«

»›Kob‹? Er hat mir gar nicht gesagt, dass er so einen lustigen Spitznamen hat.«

»Er ist seit Jahren tot.« Eberhard musterte den Jungen. »Du warst zu dem Zeitpunkt nicht mal geboren.«

»Du weißt gar nichts, alter Sack. Also hör zu. Ich bin der Geist des vergangenen Schneefestes.«

Eberhard dachte kurz über das Gehörte nach und reagierte, wie jeder normale Mensch reagieren würde. »Hä?«

»Ich bin der Geist …«

»Ja, ja, ich habe dich beim ersten Mal verstanden, du freches Gör’. Aber ich verstehe nicht. Es gibt erst ein vergangenes Schneefest. Und Geister gibt es überhaupt nicht.«

»Gibt es wohl.«

»Gibt es nicht.«

»Gibt es wohl.«

»Gibt es nicht.«

»Wohl.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein … ach, lass den Quatsch.«

»Also gut. Ja, es gab erst ein Schneefest. Und ich war da. Mann, was für eine grandiose Veranstaltung. Mama hat mir Lebkuchen gekauft. Und Zuckerwatte. Und Papa hat sich mit Glühwein abgschossen und sich vollgekotzt. War ein lustiger Abend. Bis …«

»Bis was?« Auf Eberhards Gesicht hatte sich ein zufriedenes Grinsen bei den Ausführungen des Jungen gebildet, das jetzt verschwand und zu seiner ausdrucklosen Form zurückkehrte, die er immer an den Tag legte.

»Bis ich von den ganzen Irren bei der Glühwein-Happy-Hour totgetrampelt wurde. Und das ist allein deine Schuld, du Penner.«

»Wieso meine Schuld?«

»Weil du in deiner Geldgier nur noch mehr Glühwein verkaufen wolltest. Ich kenne den Trick. Habe ich bei meinem Limonadenstand auch immer gemacht. Wenn das Geschäft nur noch schleppend läuft, macht man die Kunden eben noch mal mit einem Rabatt heiß, damit sie danach doch wieder zum normalen Preis weiterkaufen.«

»Toller Trick, nicht wahr. Funktioniert immer.«

»Wenn man deshalb verreckt, ist es nicht mehr so toll.«

»Das ist nicht mein Problem, Junge. Deine Eltern hätten auf dich aufpassen sollen, statt sich sinnlos zu besaufen. Dann wärst du jetzt noch am Leben. Also such die heim und spuk da rum. Ich will noch etwas schlafen, bevor ich mich morgen um das Schneefest kümmern muss.«

Eberhard setzte sich wieder in seinen Sessel und schloss die Augen.

Eine schallende Ohrfeige weckte Eberhard unsanft aus seinen Träumen von Whirlpools voller nackter Thailänderinnen. Eine angezogene Frau schaute ihn mit ihren grünen Augen böse an.

»Wach auf, du Fettsack.«

»Hm? Was?« Fragte Eberhard schlaftrunken und mit den Gedanken noch im Whirlpool.

»Du warst ganz schön böse zum Geist des vergangenen Schneefestes.«

»Er wird es überleben.«

»Er ist bereits tot.«

»Ach ja. Na ja, was will man machen.«

Die Blondine seufzte. »Ich bin der Geist des diesjährigen Schneefestes.«

»Und was willst du? Wurdest du auch von ›Kob‹ geschickt?«

»›Kob‹? Er hat mir gar nicht gesagt, dass er so einen sexy Spitznamen hat.«

»Ja, ja, können wir dann zu dem Punkt kommen, wo du mir anbietest, dich für Geld frei zu machen?«

Die Ohrfeige schallerte heftiger als die Vorherige. Eberhard schüttelte den Kopf und hielt sich die Wange. »Ich bleibe wohl doch bei meinem Thailandurlaub.«

»Weißt du was?«

»Was?«

»Eigentlich sollen wir dir helfen. Jakob Harley meinte, du könntest gerettet werden. Wir könnten dich ändern. Aus dem Arschloch, dass du jetzt bist, einen netten Mann machen, der nicht in der Hölle in Ketten liegen und Scheiße schaufeln muss, bis in alle Ewigkeit. Aber du hast jede Scheiße verdient. Ich bin weg.«

Die Frau zog ihr Shirt hoch und zeigte Eberhard ihre prallen Brüste, die er nie kriegen würde. Dann verschwanden sie und ihre Brüste vor Eberhards Augen. Er guckte verwirrt auf den Kaminsims vor sich und das Foto von sich selbst und Jakob in jungen Jahren. »Wenn er mir helfen will, soll er halt selbst kommen und keine Pissblagen und Nutten schicken.« Er setzte sich wieder hin und döste ein.

Ein »Wach auf, du Arschloch« weckte Eberhard aus seinen Träumen von Badewannen voller Geld und Thailänderinnen in Bikinis aus Geldscheinen, die ihm mit Palmwedeln aus Aktien Luft zuwedeln. Vor ihm stand ein Mann in Ketten, in zerrissener Kleidung.

»›Kob‹? Bist du das?«

»Ja, bin ich«, sagte Jakob. »Musstest du den anderen Geistern wirklich von meinem Spitznamen erzählen? Alle machen sich über mich lustig.«

»Das solltest du doch gewohnt sein. Haben wir schließlich auch immer getan.« Eberhard konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, bei dem Gedanken an die bösen Sprüche, die ›Kob‹ sich immer hatte anhören müssen.

»Hör auf zu lachen, Eberhard. Ich bin in ernster Mission hier. Ich bin der Geist des zukünftigen Schneefestes.«

Eberhard verdrehte die Augen. »Sind wir dann bald fertig hier? Ich muss schlafen. Morgen ist ein großer Tag.«

»Lass mich dir nur zeigen, was aus deinem Schneefest wird. Dann kannst du tun, was immer du willst.«

»Also gut.«

Der Geist von Jakob schnippte mit den Fingern und sie standen in einem Einkaufszentrum. Eberhard schaute sich um. »Imposanter Laden«, sagte er. Sein Blick blieb an einem Banner kleben, das in großen Buchstaben ein »Frohes KonsumUmnachten« wünschte. »Was ist ›KonsumUmnachten‹?«

»Das ist das, was aus deinem Schneefest wird. Mit den Jahren wird es immer größer werden. In aller Welt wird man es feiern. Es gibt Schokoladenfiguren und die Leute schenken sich unützen Krempel und alle werden arm und feiern gemeinsam, obwohl sie sich hassen und kein Geld haben und die Selbstmordraten steigen, weil die Einsamen und Armen und Hungernden an diesem Tag besonders verzweifelt sind.«

»Also wird mein kleines Fest der absolute Hit und ich werde stinkreich und berühmt und kann so viele Thailänderinnen haben wie ich will?«

»Hast du mir nicht zugehört? Selbstmörder und so weiter.«

»Was interessieren die mich? Ich bin reich ohne Ende und kann tun und lassen was ich will.«

»Du bist einfach unverbesserlich, Eberhard.« Jakob schnippte mit den Fingern.

Eberhard wachte in seinem Sessel auf. Hatte er alles nur geträumt? Würde es gar kein KonsumUmnachten geben? Würde es nie Schokoladenfiguren mit seinem Gesicht geben? Das konnte er nicht zulassen. Von nun an würde er alles daran setzen, das Schneefest zum größten Fest aller Zeiten und zum weltweiten Phänomen zu machen. Er grinste zufrieden. Er hörte Gelächter von draußen. Er ging ans Fenster. Es waren die Obdachlosen. Trotz ihrer Armut schienen sie Freude zu empfinden. Heute, beim ersten Schnee, der das Schneefest einleitete. Waren sie bereits in der Stimmung, gemeinsam zu feiern, wie es später die ganze Welt tun würde. Eberhard öffnete das Fenster.

»He, ihr«, rief er zu den Obdachlosen hinunter. »Haltet die Fresse. Ich werde stinkreich sein und will schlafen.« Er warf einen Blumentopf nach den Obdachlosen. Zufrieden schloss er das Fenster und ging zu Bett um von seiner Zukunft voller Thailänderinnen in seinem Schloss aus Gold zu träumen. Mit dem Gedanken an eine rosige Zukunft schlief er ein.

„Mach was!“ – Mit Halloween

Normalerweise poste ich hier ja immer Freitags meinen neuen Quark. Aber dieses Mal muss ich eine Ausnahme machen. Erstens, weil es ohnehin keine Sau interessiert, wann ich meinen Quatsch online stelle. Und zweitens, weil das Thema von Pö und Herbas „Mach was“ dieses Mal HALLOWEEN lautet. Und da macht es ja wohl nur Sinn, meine Halloween Geschichte auch an Halloween zu posten. So, ich denke, ich habe das Keyword Halloween jetzt oft genug untergebracht, um allen zu beweisen, dass ich voll den Plan von SEO habe. Hier also meine Halloween Geschichte.

Lilith saß gelangweilt an der Theke des Kostümverleihs und blätterte in einer Zeitschrift, für die sie eigentlich viel zu alt war. Vielleicht war das der Grund, dass sie als Geschäftsbesitzerin gescheitert war. Sie hätte lieber in Tageszeitungen blättern sollen. Relevante Informationen über die Welt, Finanzen und die Region hätten ihr wahrscheinlich im Leben weitergeholfen, als die Erkenntnis, dass ihre Hassmusiker mal wieder miteinander in der Kiste waren. Sie las ihr Horoskop. Natürlich prophezeite es spannende Erlebnisse und eine große Veränderung. Jede Woche die gleichen Bausteine, die nur unter den Sternzeichen ausgetauscht wurden, damit jeder mal angeblich seine große Liebe fand. Sie schob die Zeitschrift zur Seite und schaute auf die Uhr. Nur noch eine Stunde, bevor sie den Laden schließen musste. Zum letzten Mal. Die Halloweenpartys starteten bald und sie hatte nicht ein einziges Kostüm verliehen. Ihr blieb keine Wahl als den Laden zu schließen und sich nach einem Job umzusehen. Einer Arbeit, bei der sie nicht ihr eigener Chef war. Wo sie für irgendeinen reichen Arsch auf Kommando springen musste. Sie würde jede einzelne Sekunde davon hassen, das war klar. Sie hatte überlegt, ob sie den Laden einfach abfackeln sollte, um die Versicherung zu bescheißen. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass das nur im Film wirklich funktionierte ohne aufzufliegen.

Eine Frau schrie. Lilith sah auf. Der Schrei war schon lange nicht mehr durch den Laden geschallt. Sie hatte die Türklingel durch den Schrei ersetzt, da schreiende Frauen ein weniger nervender Ton war.

Eine Mumie stürmte in den Laden. Ihr folgte ein Werwolf mit einem Beutel in der Hand. Lilith wartete auf Frankenstein, um das Monsterklassentreffen zu vervollständigen. Die Mumie schlug die Tür zu und zog das Rollo daran herunter. Ein Verbandsfetzen der Mumie verfing sich im Rollo. Sie wedelte wild mit dem Arm, um ihn von dem Rollo zu lösen. Der Werwolf versuchte ihr zu helfen. Lilith schaute einen Moment zu, wie sich die beiden Gestalten gegenseitig am Arm zogen und beleidigten.

Lilith verlor die Geduld und hielt den Zeitpunkt für gekommen auf sich aufmerksam zu machen. »Ihr seid im falschen Laden. Ihr habt doch bereits Kostüme.«

Die Gestalten erstarrten. Als hätten die Monster noch nie zuvor eine menschliche Stimme gehört. Mumie und Werwolf drehten sich um. »Wrmpflmpf«, sagte der Werwolf. Er öffnete sein Maul mit seinen Händen und versuchte erneut, sich verständlich zu machen: »Wer bist du?«

Lilith pustete sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mir gehört dieser Laden. Ich könnte der Mumie helfen, ihren Arm zu ersetzen.«

Die Mumie hörte damit auf, ihren verhedderten Verband vom Rollo zu lösen und um ihren Arm zu wickeln. Sie seufzte. Sie riss den Verband ab und zog mit ihrem freigelegten Arm ein Messer hervor. Lilith verschwendete keinen Gedanken daran, wo die Mumie das Messer wohl versteckt gehalten hatte. Sie wusste wo ihres sich befand. Das war wichtiger.

Die Mumie kam zu ihrem Tresen rüber geschwankt als wäre sie direkt aus einem Horrorfilm der 1950er Jahre entsprungen. Lilith griff unter den Tresen und präsentierte ihr Messer, das das der Mumie in Länge, Breite und Schärfe überragte. Die Mumie blieb stehen. Der Werwolf ging an der Mumie vorbei und stellte sich vor den Tresen. »Ganz ruhig«, sagte er. »Wir sind nicht für einen Messerkampf hier.«

»Warum seid ihr hier?«

Draußen ertönten Polizeisirenen. Sie wurden lauter. Die Mumie steckte das Messer weg und lief zurück zur Tür um sie mit einem Kleiderständer zu versperren.

»Wir wollen uns nur für einen Moment hier verstecken«, erklärte der Werwolf. Die Sirenen verstummten. Er ging zur Tür und schob das Rollo ein Stück zur Seite. Nach einem kurzen Blick auf die Straße vor dem Kostümverleih kam er zurück an den Tresen. »Könnte etwas länger dauern«, sagte er. Er legte den Beutel auf den Tresen. »Lass die Finger von meinem Beutel«, warnte er Lilith mit einem haarigen Finger.

Der Werwolf und die Mumie standen an der Tür und flüsterten miteinander. Lilith saß weiterhin auf ihrem Hocker und betrachtete die beiden Gestalten und den Beutel vor ihr.

Von draußen erklang die Stimme eines alten Mannes, die durch ein Megaphon verstärkt wurde. Sie erklärte, dass die Monster mit erhobenen Händen rauskommen sollten, damit niemandem etwas passiert.

»Pah«, kommentierte der Werwolf die Lage, »der glaubt doch wohl nicht ernsthaft, dass wir auf den Trick reinfallen. Die knallen uns ab, sobald wir da rausgehen.«

»Wenn sie keine Silberkugeln haben, hast du nichts zu befürchten«, sagte Lilith.

»Lustig«, kommentierte der Werwolf. »Vielleicht sollten wir dich rausschicken und schauen, was passiert.«

»Könnt ihr tun, aber vielleicht bin ich für euch hier drin hilfreicher.«

»Du meinst als Geisel?«

»Nein, als die hilflose Jungfrau, die von Monstern belästigt wird und von dem Helden gerettet werden muss.«

»Hast du den Polizisten da draußen gesehen? Der sieht nicht aus wie ein Held. Eher, als hätte er gerade widerwillig seinen Donut weggelegt.« Der Werwolf stellte sich an den Tresen. »Und wie eine hilflose Jungfrau siehst du nun wirklich nicht aus.«

»Nun, ich schätze, ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Lilith und griff ihr Messer fester. »Keine Sorge, dir passiert nichts. Wir sind freundliche Monster.«

»Die Polizei scheint anderer Meinung zu sein.«

»Gegen Monster gibt es nun mal einige Vorurteile.«

Der Werwolf ging zurück zur Tür. Lilith konzentrierte sich weiter auf den Beutel. Der Inhalt eines Beutels konnte viel über eine Person aussagen. Lilith schaute zu den Monstern hinüber, die damit beschäftigt waren, sich mit der Situation vor dem Laden auseinanderzusetzen. Sie schaute in den Beutel.

Lilith schreckte hoch, als sich die Krallen einer Werwolfpfote neben dem Beutel in den Tresen bohrten. »Ich habe doch gesagt, du sollst nicht in den Beutel schauen.« Der Werwolf sah nicht erfreut aus. Zugegeben, der tote Blick der Werwolfmaske sah zu keiner Zeit erfreut aus. Aber Lilith spürte, dass sich die Gefühlslage des Mannes hinter der Maske gerade veränderte. Sicher nicht zu Lilith‘ Vorteil. Es schien Zeit zum Handeln zu sein.

Lilith riss das Messer hoch und rammte es in die Pfote des Werwolfs. »Bist du irre?«, sagte das Monster und schaute sich seine Pfote an. »Ich habe meine Hand da drin.« Er zog das Messer aus der Pfote. An der Spitze hing ein kleiner Tropfen Blut. »Zum Glück ist mir das Kostüm zu groß und meine Hand hat sehr viel Platz.«

»Wenn hier jemand irre ist, dann ihr!«, rief Lilith und lief in den Hinterraum des Ladens, wo sie sich im Kostümlager einschloss, um sich vor den Monstern in Sicherheit zu bringen.

Lilith presste sich an die Tür und atmete mehrmals tief ein. Ruhig bleiben war jetzt wichtig. In ihrem Laden waren zwei irre Mörder, die als Monster verkleidet Körperteile in einem Beutel sammeln. Lilith schaute sich um. Sie hatte den denkbar blödesten Raum gewählt, um sich vor den Monstern zu verstecken. Es gab keinen Ausgang. Keine Fenster. Nur Kostüme. Wäre sie doch ins Büro geflüchtet. Oder zumindest in den Pausenraum. Da stand zwar nur eine Kaffeemaschine, die seit Jahren braunes Wasser ausspuckte, selbst wenn man kein Kaffeepulver hineinfüllte. Aber immerhin hätte sie durch das kleine Fenster fliehen können.

Lilith überlegte, was sie stattdessen tun konnte. Der Werwolf redete hinter der Tür auf sie ein. Sie ignorierte seine Ausreden und Erklärungsversuche. In der Ecke stand ein Schrank mit mehren Schubladen und Türen. Lilith durchsuchte jede einzelne. Das einzige was sie fand war ein Buch. Sie schaute sich den Umschlag an, auf dem eigenartige Zeichen abgebildet waren. Lilith kannte diese Zeichen. Wenn sie keine billigen Zeitschriften vom Kiosk las, beschäftigte sie sich gerne mit dem Okkulten. Wenn man sie fragte, war es die perfekte Mischung aus nutzlosem Wissen und halbwahren Neuigkeiten. Beides half einem nur geringfügig weiter. Aber in diesem Fall könnte sich das nutzlose Wissen tatsächlich mal auszahlen. Sie schlug das Buch auf und fand schnell wonach sie suchte. Sie brauchte nur wenige Utensilien. Der Raum bot nicht viel, aber in der Not half Improvisation oft weiter, als man annehmen sollte. Fledermausflügel. Der Umhang eines Draculakostüms kam dem nah genug. Froschaugen. Die weißen Stoffbälle auf eine Froschmaske genäht sollten reichen. Stierhoden. Hatte das Kuhkostüm nicht ein dickes Euter? Lilith legte weitere »Zutaten« zurecht und las aus dem Buch vor.

Melvin nahm den Werwolfskopf ab und wischte sich mit einer Pfote den Schweiß aus dem Gesicht. Unter dem Kostüm war es unerträglich warm. Er hielt den Kopf unterm Arm und schaute auf die verschlossene Tür. »Ich glaube nicht, dass sie wieder rauskommt«, sagte er.

»Vergiss sie«, schlug Toni vor und wickelte an seinem Arm herum, damit sich nicht noch mehr seiner Bandagen lösten. »Überleg lieber, wie es jetzt weitergeht. Wir sind umzingelt.« Er schaute ununterbrochen durch den kleinen Spalt hinter dem Rollo auf die Straße.

»Ich schätze, es gibt einen Hinterausgang. Aber dazu müssen wir vermutlich durch diese Tür.«

Toni ließ das Rollo zurückschnappen und wandte erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit den Blick von der Straße ab. »Ich kriege die schon auf«, sagte er und ging so entschlossen es seine überall an seinen Giedern umher wedelnden Bandagen zuließen auf die Tür zu. Als er an dem Beutel auf dem Tresen vorbeiging bewegte dieser sich. Toni blieb stehen. »Hast du das gesehen?«

»Was?«

»Der Beutel hat sich bewegt.«

»Quatsch. Du bist nur nervös. Deine Nerven spielen dir einen Streich.«

»Ich bin nie nervös.«

»Und warum hast du dann den Penis fallen lassen?«

»Weil es ein Penis ist.«

»Weißt du eigentlich, wie viel Geld der uns eingebracht hätte?«

Toni antwortete nicht. Eine andere Stimme kam ihm zuvor.

»Wisst ihr Jungs, es ist schon eine selten dämliche Idee, eine Ausstellung voller Körperteile auszurauben«, sagte der Beutel, »aber wenn ihr schon meinen Kopf mitnehmen müsst, lasst mich wenigstens im Licht. Ich habe Angst im Dunkeln.«

Melvin und Toni sahen sich verwirrt an. Eine Hand krabbelte aus dem Beutel und griff nach dem Messer, das Lilith dort hatte liegen lassen. Sie schnitt den Beutel in Stücke und legte den darin befindlichen Kopf und frei. Der schaute die Diebe an. »Jetzt steckt ihr wirklich in Schwierigkeiten«, sagte er und lachte finster.

Ein Knurren kam von irgendwoher. Melvin sah sich nach der Quelle um. Er fand sie, als ihm der Werwolfkopf den Arm abbiss.

Melvin fiel zu Boden und schaute sich die Stelle genauer an, an der zuvor eine Gliedmaße mehr gewesen war. Er schaute Toni an, der in Schockstarre den Kopf auf dem Tresen anschaute. Und dann explodierte der Laden. Zumindest kam es Melvin so vor. Glassplitter, Holzsplitter, Metallsplitter, Stofffetzen und andere Kleinteile flogen umher, als die Tür zu Lilith‘ Versteck aus den Angeln flog und eine Rauchwolke hinter sich herzog, die den Laden in einen Nebel hüllte, der einen die Hand vor Augen nicht sehen ließ. Melvins Hand lag ohnehin zu weit entfernt, um damit etwas anstellen zu können, also wartete er darauf, dass sich der Nebel verzog.

Der schwarze Rauch verzog sich durch die aufgesprengte Tür. Die Kostüme um Lilith herum waren zum Leben erwacht. Geister schwebten umher. Vogelscheuchen stapften unbeholfen durch den Raum. Dracula suchte seinen Umhang. Lilith folgte einer Horde Zombies aus dem Raum und fand den Werwolf, der seinen Kopf und einen Arm verloren hatte.

»Wir sind nur gewöhnliche Diebe«, erklärte er und spuckte etwas Blut.

»Das konnte ich ja nicht wissen.« Lilith kniete sich neben ihn. »Was machen gewöhnliche Diebe mit einem Beutel voller Körperteile?«

Der Werwolf erklärte es ihr.

»Das tut mir leid. Aber vielleicht tröstet es dich, dass du mir sehr geholfen hast.«

»Ach ja? Wie?«

»Vorhin wusste ich nicht, was ich nach heute mit meinem Leben anfangen sollte.«

»Und jetzt weißt du es?«

»Natürlich. Ich habe ein Hexenbuch und eine Armee von Zombies und anderen Horrorgestalten. Ich werde zusehen, wie die Menschheit zerfleischt wird.« Lilith lachte irre. Es fiel ihr selbst auf. Sie stellte das Lachen ein und überlegte. Dann begann sie wieder zu lachen. Noch lauter und irrer als zuvor.

Der Werwolf knurrte ein letztes Mal. Lilith setzte ihm seinen Kopf auf und verließ den Laden. Sie betrachtete ihr Werk. Sie presste das Buch an ihre Brust und lachte irrer als je zuvor, während um sie herum die Apokalypse ausbrach.

„Mach was!“ – Mit Blitz und Donner

Nach langer Zeit bin ich mal wieder bei diesem kleinen Mitmachprojekt von Herba und Pö dabei. Zuletzt waren die Themen nichts für mich und ich habe deshalb ausgesetzt. Naja, und weil ich nicht wirklich Zeit hatte, mir mal wieder eine unfassbar passende Geschichte aus den Fingern zu saugen, die ständig Gefahr droht, das Thema komplett zu verfehlen. Der heutige Beitrag lässt da allerdings keine Wünsche offen.

Das Thema lautet passend zum Sommerwetter „Blitz und Donner“.

»Man beginnt nicht mit dem Wetter.« Das war der erste Rat den Yvonnes Mutter ihr gegeben hatte, als sie auf ihre erste gemeinsamen Dinnerparty gegangen waren. Yvonnes Mutter hatte einen ausgeprägten Hass gegen Smalltalk entwickelt. Wenn jemand in ihrer Nähe über banale Dinge wie das Wetter, das Mittagessen, oder die neuesten Modetrends zu reden begann, verdrehte sie die Augen und entfernte sich kommentarlos so weit wie möglich von ihrem Gesprächspartner. Yvonne hatte sich immer gefragt, warum ihre Mutter überhaupt auf diese Partys ging. Sie war keine gesellige Frau gewesen. Aber es ging um Bekanntschaften. Zumindest hatte sie das immer gesagt. In ihrer Tätigkeit als Autorin war es offenbar wichtig, die richtigen Leute zu kennen.

Yvonne sah das anders. Sie war introvertierter, als es ihre Mutter jemals hätte sein können. Sie ging jedem menschlichen Kontakt aus dem Weg. Die meiste Zeit saß sie in dem kleinen selbst eingerichteten Büro in ihrer Dachgeschosswohnung und tippte laut auf den Tasten ihrer alten Schreibmaschine herum.

»Man schreibt nicht am Computer.« Das war der erste Rat den Yvonnes Mutter ihr gegeben hatte, als sie stolz verkündete, dass sie in ihre Fußstapfen treten und Schriftstellerin werden will. Yvonnes Mutter hatte eine eigene Art gehabt, Freude zum Ausdruck zu bringen. Sie drückte die Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus und zündete sich einen Joint an, den sie immer neben der Schreibmaschine liegen gehabt hatte, um bei möglichen Schreibblockaden gewappnet zu sein. Sie behauptete, der Joint ordne ihre Gedanken. Und Yvonne hatte oft erlebt, dass ihre Mutter nach dem Rauchen besonders viel zu Papier brachte. Allerdings quoll einige Tage später der Mülleimer meistens über von den vielen Papierfetzen, die ihre Mutter fabriziert hatte, nachdem die Leseprobe im nüchternen Zustand wohl nicht sehr erfolgreich gewesen war. Es war immer der gleiche Ablauf. Yvonne hatte sich oft gefragt, wovon ihre Mutter ihren Lebensunterhalt bewerkstelligte. Als Schriftstellerin hatte sie nie einen Cent verdient. Sie hatte niemals etwas veröffentlicht.

»Man muss immer selbstkritisch sein.« Das war der erste Rat, den Yvonnes Mutter ihr gegeben hatte, als sie ihr ihre erste eigene Schreibmaschine geschenkt hatte. Es war ein altes Modell und Yvonne war sich absolut sicher, dass sie die Schreibmaschine für einen Euro auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Nach genauerem Überlegen war es sogar möglich, dass ihre Mutter die Schreibmaschine geklaut hatte. Denn woher hätte sie den Euro haben sollen?

Yvonne hatte schnell die Entscheidung getroffen, nicht so werden zu wollen wie ihre Mutter. Sie wollte eine Geschichte veröffentlichen. Nein, sie wollte viele Geschichten veröffentlichen. Sie wollte ihre Gedanken mit der Welt teilen. Und gab es einen besseren Zeitpunkt als jetzt? Sie trug noch das schwarze Kleid, das sie auf der Beerdigung ihrer Mutter getragen hatte. Sie wollte die Gefühle, die sie über den Tag gequält hatten, so schnell wie möglich zu Papier bringen. Und womit begann sie? Mit dem Wetter. »Donner grollte, als der Sarg meiner Mutter in das Loch hinab gelassen wurde.« Was für ein dämlicher erster Satz. Oder doch nicht? Konnte die Wahrheit überhaupt dämlich sein? War Yvonne doch zu selbstkritisch? Sollte sie einfach weiterschreiben? »Ein Blitz zuckte vom Himmel und ließ den Friedhof für den Bruchteil einer Sekunde hell aufleuchten.« Wahr. Aber spannend? Würde jemand das lesen wollen? Wen interessierte es überhaupt, was sie zu sagen hatte? Und wen interessierte ihre Mutter? Niemand kannte ihren Namen. Niemand hatte jemals etwas von ihr gelesen. »Die Grabsteine schienen sich für einen Moment zu bewegen. Sich zu verschieben.« Den Grabstein für ihre Mutter auszusuchen, war recht einfach gewesen. Yvonnes Mutter war eine bescheidene Person gewesen. Also hatte sie auch einen bescheidenen Grabstein bekommen. Eine simple Tafel mit ihrem Namen darauf. Darunter das Geburtsjahr und das des Ablebens. Auf irgendwelche schlauen Sprüche hatte Yvonne bewusst verzichtet. Ihre Mutter hätte er ohnehin nicht gefallen. Yvonne hatte sich zuvor einige Gedanken gemacht, aber keiner der Sätze schien ihr gut genug. Sie kramte in einem Zettelgewirr auf ihrem Schreibtisch herum und zog ein Blatt Papier hervor. Darauf standen mit Bleistift geschrieben und teilweise durchgestrichen mehrere Grabsteinsprüche, die in die engere Auswahl gekommen wären, wenn sich Yvonne doch noch umentschieden hätte.

Das Licht flackerte in dem kleinen Büro. Yvonne betrachtete die Glühbirne, die über ihrem Kopf baumelte. Der Draht schien kurz vorm Verglühen zu sein. Er leuchtete ein letztes Mal hell auf, wie eine Wunderkerze, kurz bevor sie erlischt. Statt zu erlöschen leuchtete der Draht immer heller. Yvonne musste sich die Hand vor die Augen halten, um nicht geblendet zu werden. Zusätzlich schützte die Hand vor den umherfliegenden Glassplittern, als die Glühbirne explodierte. Yvonne öffnete die Augen und sah nichts als völlige Dunkelheit. Sie stand auf und tastete sich vorsichtig am Schreibtisch entlang, um zur Tür zu gelangen, hinter der das Licht aus dem Flur wartete. Bevor sie die Tür erreichte, wurde der Raum durch anderes Licht erhellt, das in Blitzen von der Bürodecke zu Boden zuckte. Yvonne hob die Hand wieder vors Gesicht. Weniger, weil das Licht so grell war, sondern weil Blitze von der Zimmerdecke ein eher ungewöhnliches Phänomen darstellten.

»An diese Hitze werde ich mich nie gewöhnen«, sagte eine Frauenstimme, die Yvonne sehr bekannt vorkam.

Yvonne nahm die Hand runter und blickte auf ihre Mutter, die leuchtend mitten im Zimmer stand und eine kleine Flamme an ihrem Kleid ausklopfte. Yvonne fand keine Worte. Ihre Mutter fand den Zettel mit den Grabsteinsprüchen. Sie hob ihn auf und las.

»›Liebende Mutter, noch liebendere Buchautorin‹. Ernsthaft?«

»Es war nur ein Entwurf.«

»Du hättest ihn wegwerfen sollen.«

»Mama?«

»Ja?«

»Was machst du hier?«

»Oh, ja, stimmt. Das muss ein kleiner Schock für dich sein. Und ich sollte auch eigentlich nicht hier sein. Aber ich konnte dich doch nicht einfach so zurücklassen, ohne dir die Erkenntnisse zu überliefern, die ich erlangt habe, nachdem ich gestorben bin.«

»Du scheinst dich jedenfalls stark verändert zu haben.«

»Danke. Das will ich doch hoffen. Immerhin bin ich jetzt eine Wettergöttin. Entschuldige übrigens die Blitze. Ich bin noch nicht gut darin, meine Kraft zu kontrollieren. Es könnte also unter Umständen gleich anfangen, hier drin zu schneien.«

»Es ist Sommer.«

»Pfft … als Wettergöttin interessiert mich das doch nicht. Wenn ich Schlittschuhlaufen will, kann ich das ganz schnell einrichten.«

»Also gut«, sagte Yvonne und setzte sich, mit dem unguten Gefühl, dass die Veränderung ihre Mutter weitaus anstrengender im Umgang gemacht hatte, als es zu Lebzeiten ohnehin schon der Fall gewesen war, auf ihren Stuhl, »warum bist du eine Wettergöttin geworden?«

»Nun, wenn man stirbt ist das noch lange nicht das Ende. Jeder hat eine Aufgabe und sie hängt damit zusammen, wie du gestorben bist. Wenn du zum Beispiel vom Bus überfahren wirst, ist dein Job höchstwahrscheinlich Seelenbusfahrer. Du weißt schon, ein Bus, der die Seelen an ihren Bestimmungsort bringt. Kann ja nicht jede Seele weiter hier rumhängen. Manche müssen weit weg, um dort ihre Jobs zu erledigen. Erinnerst du dich noch an Kathrin von nebenan, die vor ein paar Jahren von der Reklametafel für Hawaiiurlaub erschlagen wurde? Die ist jetzt Hulagirl auf der Todseeinsel. Soll ein echtes Urlaubsparadies sein. Hoffentlich komme ich da auch mal hin.« Sie schaute ihre Tochter an, die sich nicht rührte in ihrem Stuhl. Sie fasste das als verstehendes Schweigen auf. »Nun, da ich in meinem Skiurlaub vom Blitz erschlagen, anschließend von einer Lawine begraben und dann von Wölfen gefressen wurde, hatte ich die Wahl zwischen Wettergöttin, Todesbergführerin und Werwolfbändigerin. Die Entscheidung fiel mir ziemlich leicht.«

»Das ist doch völlig verrückt. Was ist, wenn ein Bus voller Nonnen von einer Klippe fällt? Wie viele Seelenbusfahrer kann man im Jenseits schon brauchen?«

»Was glaubst du, wie viele Seelen täglich da ankommen?«

Sie schwiegen beide für einen Moment.

»Du überlegst gerade, wie du am liebsten sterben würdest, oder?«

»Wie kriege ich im Jenseits einen Job, der etwas mit Katzen zu tun hat?«

»Am besten stirbst du im Urlaub in Ägypten, indem du von einer Sphinxkatze zu Tode erschreckt wirst. Aber ich glaube, das kommt eher selten vor. Katzen sind nicht gruselig genug. Wenn man von einem Löwen gefressen wird, hat man zumindest mit Raubkatzen zu tun.«

Yvonne sah ihrer Mutter zu, wie sie durch das Zimmer schlich und sich umsah. Sie hatte Yvonnes Zimmer zu Lebzeiten selten aufgesucht und in ihrer Wohnung hatte sie Yvonne nur ein einziges Mal besucht. Den Tag vor ihrem Skiurlaub. Yvonne überlegte, wie ihre Mutter den Urlaub wohl hatte finanzieren können.

»Du solltest nicht zu viel darüber nachdenken«, sagte ihre Mutter.

Yvonne dachte kurz darüber nach, ob Tote wohl Gedanken lesen können.

»Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.« Yvonnes Mutter öffnete die Zimmertür und ging auf den Flur hinaus.

Yvonne stand auf und folgte ihr.

Sie standen vor einem Garagentor. Yvonne war nie zuvor in der Gegend gewesen. Sie war nicht traurig darüber. Die Umgebung machte den Eindruck, als würde sie sich am liebsten selbst zerstören und als ob mit diesem Prozess bereits begonnen worden war.

»Warum führst du mich in diese Gegend? Willst du, dass ich von irgendeinem Irren abgestochen werde? Ist das, wie ich sterbe? Oh nein, ich werde Messerschärferin im Jenseits, nicht wahr? Oder Skimaskenwascherin.«

»Beruhige dich. Ich war hunderte Mal hier und ich habe es überlebt. Halte dich aus den Skigebieten fern, dann droht keine Gefahr.«

»Also, was wollen wir hier?« Yvonne blickte sich nervös um. Ihre Mutter war natürlich die Ruhe selbst. Sie hatte auch nichts mehr zu befürchten. Selbst wenn sie angegriffen würde, könnte sie ein paar Blitze um sich schießen. Und sterben konnte sie ohnehin nur ein Mal. Zumindest vermutete Yvonne das.

»Ich will dir mein Leben zeigen.« Mutter öffnete das Garagentor.

Yvonne schaute in die Garage. Darin stapelten sich Kartons, beschriftet mit Filzstift. Simple Worte standen darauf. »Jugend«. »Kindheit«. »Blitz und Donner«. »Mutter«. »Allein«.

»Was ist das?«

»Das sind all meine Manuskripte.« Mutter öffnete einen der Kartons und holte einen Stapel beschriebenes Papier daraus hervor. Sie blätterte durch die Seiten. »Alles, was ich jemals geschrieben habe, steht hier.« Sie legte die Seiten zurück in den Karton. »Geschichten von meiner Kindheit. Aus meiner Jugend. Vom Mutter sein. Vom allein sein.« Sie schaute einen bestimmten Karton an. »Oh, guck mal. Geschichten von meiner Angst vor Gewittern. Irgendwie ironisch, dass ich eine Wettergöttin bin, nicht wahr.« Sie rückte etwas näher an Yvonne heran. »Unter uns: Es wird hier nicht mehr viele Gewitter geben. Nur so ein oder zwei im Jahr, damit es nicht auffällt. Aber du kannst dich auf viel Sonnenschein einstellen.« Mutter lächelte.

»Das müssen hunderte Geschichten sein.«

»Ich habe viel geschrieben, schätze ich.«

»Warum hast du sie alle hier gelagert?«

»Weil ich ein Idiot war.« Sie setzte sich auf eine der Kisten und seufzte. »Mein ganzes Leben lang habe ich nur einen Gedanken gehabt: ›Ich bin nicht gut genug‹. Immer wieder habe ich mir das eingeredet. All die Zeit, die ich verschwendet habe, um diese Geschichten zu schreiben. Und nichts habe ich daraus gemacht. Es war alles umsonst.«

»Es ist nicht zu spät. Ich könnte sie für dich veröffentlichen.«

»Nein danke. Ich will keinen posthumen Erfolg. Ich habe die Gelegenheit verpasst und damit muss ich jetzt leben … du weißt schon wie ich das meine.« Mutter stand auf und verließ die Garage. »Komm«, sagte sie. »Lass uns gehen.«

Yvonne folgte ihrer Mutter nach draußen.

»Der Tod hat mir die Augen geöffnet.« Mutter lächelte. »Erinnerst du dich noch an die Ratschläge, die ich dir gegeben habe?« Sie hob die Hand und schnippte mit den Fingern.

Ein Blitz bahnte sich einen Weg vom Himmel. Wie ein betrunkener Autofahrer, glitt er im Zickzack hinab. Wie ein betrunkener Autofahrer, der im letzten Moment einem Baum ausweicht, bog der Blitz knapp über den Köpfen von Mutter und Tochter ab und schlug in das Innere der Garage ein. Die Kartons mit den Manuskripten fingen Feuer. Für die Flammen war das trockene Papier wie eine Partymeile. Es besuchte jede Ecke, um nichts zu verpassen. Schnell stand die ganze Garage in Flammen.

»Vergiss alles, was ich gesagt habe.« Mutter packte Yvonne an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Du bist gut genug.« Sie lächelte. »Erfülle dir deine Träume.«

Yvonne wischte sich eine Träne aus dem Auge.

»Ich muss weiter«, sagte Mutter. »Der Wetterbericht hat drei Tage Regen in der Nachbarstadt angekündigt. Ich muss dafür sorgen, dass sie nach drei Wochen mal wieder richtig lagen. Ist vertraglich so festgelegt. Ich glaube, Petrus hat irgendeinen Deal mit denen.«

Sie verschwand in einer Wolke, die sich langsam vor Yvonnes Augen auflöste. Yvonne ging nach Hause und setzte sich an ihre Schreibmaschine. Sie starrte das Blatt Papier darin an. Dann schrieb sie weiter über Blitz und Donner.

„Mach Was!“ – Mit Schnee

Die Pö und Herba veranstalten nun schon seit einiger Zeit das kleine Mitmachprojekt „Mach was!“ in dem man sich kreativ ganz frei austoben kann. Nachdem ich schon ein paar Mal auf meinem anderen Blog (billige Schleichwerbung kann ich) dabei war, steige ich jetzt wieder ein und verlege den Spaß hier in meinen Autorenblog, einfach weil es besser passt als auf den Filmschrottplatz (zu aufdringlich? Na gut, ich höre schon auf.)

Das Thema lautet SCHNEE. Das ich kein großer Winterfan bin, nicht unbedingt meine Lieblingskategorie. Aber ich habe mir mal was aus den Fingern gesogen. Viel Spaß beim Lesen:

Tim pinkelte seinen Namen in den Schnee. Seit seiner Kindheit nutzte er jede Gelegenheit, um dieses Kunststück vorzuführen. Über die Jahre hatte er sogar den Punkt über dem I perfektioniert. Stolz hielt er seinen »Schlauch«, wie er ihn nannte, in der Hand und zog eine gerade Linie vom M aus unter seinen Namen.
Matthias stand neben Tim und schüttelte die letzten Tropfen ab. Als Kind war er immer neidisch darauf gewesen, dass Tim seinen Namen in den Schnee schreiben kann. Egal wie viel er trank, Matthias schaffte es nie über das zweite T hinaus. Mittlerweile hatte er anderen Grund für Neid auf seinen Freund seit Kindertagen. Der Neid bezog sich auf ein Körperteil, dessen Größe offenbar nicht mal von der Kälte beeinträchtigt wurde.
Das Geräusch einer Autohupe erinnerte die beiden Freunde daran, dass sie nicht den ganzen Tag Zeit hatten, den Schnee gelb zu färben.
»Wir müssen weiter.« Matthias zog den Reißverschluss seiner Hose hoch. »Hannah wartet nicht gerne.«
Tim ließ seinen »Schlauch« an der frischen Winterluft und kramte eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. »Hannah ist immer nervös.« Er zündete eine Zigarette an und atmete tief ein. Mit einem Seufzer blies er den Rauch in Matthias’ Gesicht. »Sie muss sich entspannen, sonst geht unser Plan nicht auf.«
»Wenn wir hier stehen bleiben, geht unser Plan auch nicht auf.« Matthias ging Richtung Auto. »Ich habe keinen Bock, wegen öffentlichen Urinierens erwischt zu werden.«
»Ihr seid beide wirklich nicht die Richtigen für diesen Job.« Tim schnippte die Zigarette weg.
»Entschuldigen Sie.« Eine Stimme hielt Tim auf, als er zum Auto gehen wollte. »Finden Sie das in Ordnung?«
Matthias hörte die Stimme ebenfalls und drehte sich um. »Oh nein«, sagte er zu sich selbst und schloss die Augen. Er wusste, was passieren würde. Tim war kein Mann, der sich lange mit dem Gesetz herumschlug. Für ihn gab es nur kurze Prozesse. Matthias hörte den Schuss, der durch die winterliche Umgebung hallte. Er öffnete die Augen. Der Polizist lag in einem Schneehügel, an dessen Fuß sich eine rote Pfütze ansammelte.
»Lass uns fahren«, sagte Tim und steckte die Waffe in seine Jackentasche. »Jemand könnte vorbeikommen und dann hätten wir Probleme.«
»Was du nicht sagst.« Matthias zog ein Messer aus der Tasche. »Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, wenn du öffentlich Leute umnieten musst, dann mach es wenigstens leise.« Er hielt Tim das Messer hin. Die Klinge glänzte in der Wintersonne, die tief am Himmel stand, als wolle sie möglichst schnell hinter dem Horizont verschwinden, um sich um angenehmere Dinge zu kümmern, als zwei Idioten beim Streiten zuzuschauen.
»Mit dem Teil kannst du doch nicht mal nen nackten Arsch rasieren«, sagte Tim und schob den Arm mit dem Messer von sich weg.
»Mit dem ›Ding‹ könnte ich jemanden in alle Einzelteile zerlegen.«
»Damit könntest du nicht mal einen Fingernagel schneiden.«
»Ich kann damit was ganz anderes abschneiden …«
Die Autohupe, die jetzt im Sekundentakt ertönte, unterbrach den Streit. Sirenen erklangen in der Ferne und wurden lauter. Tim und Matthias sprangen auf die Rückbank des Autos.

Hannah trat auf das Gaspedal und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen los. Hannah drehte sich um und sah Tim mit ihren grünen Augen an.
»Es war nicht meine Schuld«, wies Tim jede Verantwortung von sich. »Matthias wollte nicht, dass wir wegen öffentlicher Pisserei verhaftet werden.«
Hannah riss das Lenkrad zur Seite und der Wagen schlitterte über die Nasse Straße um eine Häuserecke.
»Beruhige dich, Hannah.« Tim lehnte sich nach vorne und legte seine Hand auf Hannahs Schulter. »Alles ist in Ordnung. Niemand weiß, wo wir hin wollen. Schon bald sind all unsere Probleme vergessen.« Tim bereute seine Worte eine Sekunde später, als eine Gewehrkugel die Rückscheibe des Wagens durchschlug, nachsah, was im Inneren des Autos so vor sich ging, und es durch die Windschutzscheibe wieder verließ. Weitere Patronen, die offenbar der ersten Kugel nicht zutrauten, den ihr aufgetragenen Job zufriedenstellend zu erledigen, folgten ihrem Beispiel.
Glassplitter verteilten sich im Auto. Metall riss außen am Auto. Andere Wagen verteilten sich um das Auto.
»Scheiße«, kommentierte Tim die Situation richtig und zog seine Waffe. Er sah Matthias an. »Was willst du jetzt mit einem Messer anstellen?«
Matthias zog ein Messer und sah Tim an. Er nahm Maß und warf das Messer. Es wirbelte durch den Wagen, an Tims Ohr vorbei, durch das zerschossene Fenster und blieb in der Stirn eines Mannes stecken, der im Auto nebenan gerade mit einem Gewehr auf Tims Hinterkopf zielte. Der Mann sackte zusammen, das Gewehr fiel aus seinen Händen aus dem Fenster. Ein Schuss löste sich und zerfetzte einen Hinterreifen des fahrenden Wagens. Der Fahrer verlor die Kontrolle und der Wagen geriet ins Schleudern. Er traf noch ein mal das Heck von Hannahs Fahrzeug, dann driftete er von der Bahn ab und überschlug sich mehrmals, bevor er in Flammen aufging.
Tim nickte anerkennend. »Cool. Wie im Actionfilm«, sagte er und begann, mit seiner Waffe auf die umliegenden Fahrzeuge zu schießen.

Hannah lenkte das Auto um Häuserecken, vorbei an Bushaltestellen und durch den Gegenverkehr. Die Verfolger stießen an Häuserecken, fuhren durch Bushaltestellen und zerlegten den Gegenverkehr. Es war offensichtlich, dass Hannah die bessere Autofahrerin war. Tim schoss Magazine leer. Matthias hob einen Koffer aus dem Kofferraum auf den Rücksitz.
»Was hast du vor?« Tim wechselte das Magazin in seiner Waffe.
»Ich habe noch jede Menge Messer dabei.« Matthias öffnete den Koffer und schaute hinein. »Verdammt, das ist der Falsche.«
Einer der Verfolger entschied, dass dies der richtige Moment war, um die Verfolgten mal ordentlich zu rammen. Carlos wollte das schon immer mal machen, hatte bisher aber nie die Gelegenheit dazu gehabt. Diese Chance wollte er sich nicht entgehen lassen. Er riss das Lenkrad rum.
Das kratzige Quietschen von aneinanderreibendem Metall, wie ein Hahn auf der Suche nach einem Hustenbonbon ertönte, als die Kotflügel der Wagen aufeinanderprallten. Die Insassen beider Fahrzeuge wurden durchgeschüttelt, wie die Würfel vor dem Wurf aus dem Würfelbecher. Der Koffer mit den kleinen, weißen Paketen hob ab und flog durch das Auto. Umherfliegende Kugeln mischten sich unter die Beutel, zerfetzten ihr äußeres und verteilten das Kokain im Auto. Wie ein undichter Mehlbeutel drang aus allen Öffnungen des Autos weißes Pulver und hüllte den Wagen in eine Wolke.

Hannah lehnte sich so weit wie möglich über das Lenkrad, um näher an der durchlöcherten Windschutzscheibe zu sein. Es half nicht dabei, die Straße besser zu erkennen. Die »Schneewolke« im Auto hüllte das Innere in dichten Nebel und versperrte jede Sicht. Das Husten und Fluchen von der Rückbank deutete darauf hin, dass von dort keine Hilfe zu erwarten war. Hannah trat auf die Bremse und öffnete die Fahrertür.

Carlos grinste zufrieden. Seine erste Rammattacke war ein voller Erfolg gewesen. Nun wollte er es zu Ende bringen. Nun gut, das Koks war weg, daran konnte man nichts mehr ändern. Aber das Karambolagerennen war noch nicht beendet, wenn es nach ihm ging. Er schaute zu dem Auto rüber, das geparkt mitten auf einer Kreuzung stand. Eine Frau sprang aus dem Auto. Sie durfte nicht entkommen. Mit einem Finger gab er seinen Mitfahrern ein Zeichen. Unter den Mitgliedern des organisierten Verbrechens waren selten viele Worte nötig. Ein Fingerzeig reichte aus, um zu verstehen zu geben, dass seine Beifahrer sich das Mädchen holen sollten, während er sich um den Rest kümmerte und sie anschließend zusammen was essen gehen würden und wenn sie besonders erfolgreich waren, gab es vielleicht sogar ein Glas Wein. Seine Beifahrer verstanden den Fingerzeig, stiegen aus und verfolgten die Frau, die sich von dem vollgepulverten Wagen entfernte.
Carlos trat aufs Gaspedal, um das Auto und seine restlichen Insassen endgültig zu erledigen.

Matthias wischte weißes Pulver von seiner Hose und sah Tim an, der mit schneeweißen Händen in seinem schneeweißen Gesicht rumfummelte.
»Scheiße«, sagte Tim, »meine Augen brennen von dem Zeug.« Er öffnete die Augen und blinzelte. »Das ist besser.« Er riss die Augen auf, als er einen Kühlergrill schnell herannahen sah. Geistesgegenwärtig hob er die Waffe in seiner Hand und betätigte mehrmals hintereinander den Abzug.

Carlos schrie erfreut, als er mit Vollgas auf den anderen Wagen zufuhr. Das machte viel mehr Spaß, als das ständige Verhören und Foltern von Leuten, die beim Kartell in Ungnade gefallen waren. Er beschloss, öfter die Gefangenen zum Schein frei zu lassen, um sie dann mit dem Auto verfolgen zu können. Der Aufprall stand kurz bevor. Er zog mit der rechten Hand an seinem Gurt. Er saß fest. Ihm sollte nichts passieren, so lange der Airbag seinen Dienst erfüllte. Nur noch wenige Sekunden. Carlos spürte, wie das Adrenalin ihm aus allen Poren zu sprühen drohte, wie Wasser aus einem Schwamm. Ein Klirren lenkte ihn ab. Ihm fiel ein Loch in der Windschutzscheibe auf. Es war zuvor nicht da gewesen. Ein weiteres kam dazu. Und ein drittes. Jedes mal von einem Klirren und einem Rauschen unterstützt. Carlos brauchte einen Moment, bis er registrierte, dass ihm Pistolenkugeln um die Ohren surrten, wie ein Schwarm Kolibris im Sturzflug. Carlos duckte sich unter das Armaturenbrett, was ihn allerdings daran hinderte zu sehen, wo er das durchlöcherte Vehikel hinsteuerte.

Hannah entfernte sich leicht benebelt vom Auto. Ein Drogenrausch war das Letzte, was sie momentan gebrauchen konnte. Sie war sich recht sicher, dass Kokain seine Wirkung nicht durch simples Einatmen voll entfachte. Sie war keine Expertin, was Drogenkonsum betraf, aber wies ein Talent auf, sich in Dinge reinzusteigern. Ihr Arm schien taub zu werden. Sie blieb stehen und streichelte mit der Hand ihren scheinbar tauben Arm. Eine weitere Hand packte sie an der Schulter und ein kalter Gegenstand presste sich in ihren Rücken.
Hannah schloss die Augen. Das Schlimmste erwartend. Ein Rauschen ertönte. Sie überlegte, ob der Tod vielleicht von einem lauten Dröhnen begleitet wurde, um einen davon abzulenken, dass gleich die Lichter ausgehen. Das Rauschen wurde lauter. Ein lautes Hämmern gesellte sich dazu. Hannah wartete darauf, dass ihr Leben an ihr vorbeizog. Sie wartete vergeblich, was sie nicht sehr überraschte. Viel Aufregendes gab es ohnehin nicht zu sehen. Das Rauschen dröhnte so laut, dass ihre Ohren schmerzten. Anschließend wurde alles schwarz.

Tim und Matthias krochen aus dem Wagen und atmeten tief die kalte, kokainfreie Luft ein. In der Nähe lagen drei reglose Gestalten am Boden. Zwei Männer im teuren, aber zerrissenen Anzug und eine Frau in Jeans und Top. Etwas weiter qualmte ein Auto vor sich hin, das sich einer Hauswand etwas zu schnell genähert hatte.
Hannah hustete und setzte sich auf. Sie schaute sich die Männer an, die neben ihr lagen. Offensichtlich hatte sie das Glück gehabt, das der heran rauschende Wagen die Männer zuerst erwischte und sie den Aufprall gedämpft hatten. Sie sah die beiden Jungs an, die mit leichten Blessuren beim Auto standen. Sie drehte sich um und betrachtete das qualmende Vehikel, das von der Hauswand gestoppt worden war. Neben ihr lag eine Waffe. Der Mann im Anzug würde sie nicht mehr brauchen. Sie stand auf und stolperte zu den Jungs herüber. In der Ferne ertönten Sirenen. Es war klar, wem dieses Geräusch galt.
Matthias griff sich einen Koffer aus dem Kofferraum des vollgepulverten Wagens. Tim lud seine Waffe durch. Still stimmte man darin überein, dass es Zeit war, zu verschwinden.

Schnee fiel leise auf eine Holzhütte zwischen Tannenbäumen, deren Zweige sich unter dem Gewicht des pappigen Niederschlags nach unten bogen. Rauch stieg aus dem gemauerten Schornstein an der Seite der Hütte auf. In der Ferne bog ein Auto von der Straße auf einen Waldweg ab und rollte langsam durch den Schnee in Richtung des Rauchs.

Matthias warf einen Holzscheit in die Flammen, die im Kamin umeinander schlängelten, wie Regenwürmer im Komposthaufen.
»Wie lange müssen wir uns noch den Arsch hier draußen abfrieren?« Tim saß mit verschränkten Armen auf einem Stuhl und begutachtete eine Tasse mit dampfenden Inhalt.
»Wenn wir nicht angehalten hätten, damit du deinen Namen in den Schnee pissen und einen Bullen umnieten kannst, wären wir vielleicht schon an einem Strand und ließen uns Cocktails von Hulamädchen bringen.« Matthias warf einen weiteren Scheit in die Flammen.
»Also ist es jetzt meine Schuld?«
»Lass es mich so ausdrücken: Die Idee, dem Drogenkartell den ›Schnee‹ zu klauen, um damit reich zu werden, war von Anfang an völlig bescheuert.«
»Alleine durch die Tatsache, dass du es ›Schnee‹ nennst, wirst du nie ein großer Drogendealer werden.«
»Ich will auch gar kein Drogendealer werden. Ich wollte das Geld einsacken und mit euch irgendwo auf einer Insel eine schöne Zeit verbringen.«
Tim lachte. »Du dachtest doch nicht, dass wir durch einen Verkauf so reich geworden wären, dass wir uns keine Sorgen mehr hätten machen müssen.«
Matthias schwieg.
Tim schüttelte den Kopf. »Mir ist kalt. Ich gehe ins Bett.« Tim stand auf und schlenderte durch den Raum, um durch eine Tür zu verschwinden, hinter der ein Bett stand, in dem Hannah lag.
»Viel Spaß ihr Turteltauben. Ich gucke dann so lange dem Schnee im Fernseher zu.« Matthias warf eine Fernbedienung in die Ecke.
Tim schlug die Tür zu.

Ein Baum lag quer auf dem Weg und hinderte das Auto am Weiterfahren. Carlos stieg aus und fluchte. Sein Plan, mit Vollgas in die Hütte zu fahren, würde nicht aufgehen. Er brauchte eine neue Idee. Seine Waffe war geladen und entsichert. Er stieg über den Baumstamm und folgte dem Weg zur Hütte.

Matthias versuchte sich abzulenken, indem er seine Messer putzte. Aus dem Nebenraum drangen Gesprächsfetzen an sein Ohr. »Scharf, Handschellen« und »ja, tanz für mich« waren die harmloseren Beispiele, die er versuchte zu ignorieren. Die Schneeflocken vor dem Fenster wurden dicker. Matthias hasste den Winter, aber momentan war jeder Schneehügel, der sie von der Außenwelt abschnitt positiv. Schließlich wurde so auch die Außenwelt von ihnen abgeschnitten.

Die Außenwelt stapfte in Form von Carlos durch den zugeschneiten Wald. Er erreichte die Lichtung, in deren Mitte die Hütte stand, als würde der Wald ihr gehören. Im Schutz der Bäume spähte Carlos das Gelände aus. Er erwartete keine Gegenwehr. Man würde ihn sicher nicht erwarten. Er hielt die Waffe vor sich und schlich zur Hütte.

Matthias hatte alle Messer geputzt. Die Klingen lagen ordentlich im Koffer. Matthias schloss den Koffer. Die Tür zur Außenwelt flog auf. Matthias blickte auf die Mündung einer Waffe, aus der sich eine Kugel schnell auf ihn zubewegte. Matthias hob den Koffer vom Tisch und hielt ihn zwischen sich und die Patrone. Die nachfolgenden Schüsse abzuwehren gestaltete sich als schwieriger, da der Bewegungsfreiraum unter einem Tisch arg eingeschränkt ist. Matthias spürte Schmerzen im Bein. Eine der Kugeln hatte sich in seine Wade gebohrt. Panisch öffnete er den Koffer und warf mit Messern um sich.

Hannah saß auf Tim als die Schüsse aus dem Nebenraum die beiden aus ihrer zärtlichen Stimmung riss. Hannah sprang vom Bett, zog ein Shirt an und lud die Waffe durch, die sie einem der Verfolger vor einiger Zeit in der Stadt abgenommen hatte. Sie hielt die Pistole hoch. Tim blickte über seinen »Schlauch« hinweg zur Tür, als Hannah diese aufriss, um in den Nebenraum zu feuern. Stattdessen kam etwas durch die Tür hereingeflogen. Ein Schrei folgte und zeugte davon, dass Matthias keinen Grund mehr hatte, auf Tim neidisch zu sein.

Schmerzensschreie aus beiden Räumen. Hannah presste sich an die Wand und atmete schnell ein und aus. Tim wimmerte auf dem Bett und blutete die Laken voll. Aus dem Augenwinkel sah Hannah Matthias, der unter dem Tisch lag und sich nicht bewegte. Es war nicht festzustellen, ob er noch lebte. Und auch nicht ob der Angreifer noch da war.
Hannah atmete mehrmals tief ein. Dann lief sie durch die Tür und eröffnete das Feuer.

Carlos zog das Messer aus seiner Hüfte und ein Schwall Blut ergoss sich auf den Bretterboden. Ein roter Bach floss durch die Rillen zwischen den Brettern zur Tür, aus der gerade eine Frau herausstürmte und wie eine Irre blind in den Raum schoss. Carlos hob seine Waffe und drückte den Abzug. Nur ein Klicken ertönte.

Hannah drehte sich um, als das Klicken hinter ihr auf den »Feind« hindeutete. Eine scharfe, kalte Klinge schnitt ihr in den Arm. Sie ließ die Waffe fallen und hielt sich die Wunde, aus der Blut tropfte. Der Angreifer stand mühsam auf und blickte auf die Pistole, die neben Hannah lag. Hannah bückte sich nach der Waffe, der Angreifer lief los, so schnell es seine Verletzung zuließ. Hannah hob die Pistole. Carlos stürzte sich auf Hannah. Ein Schuss hallte durch die Hütte. Carlos streckte Hannah nieder. Beide fielen auf den Boden und blieben reglos liegen.

Hannah schob Carlos von sich runter und sah ihm ins Gesicht. Das Loch auf der Stirn verriet, dass er ihr nicht mehr gefährlich werden würde. Hannah setzte sich auf und hielt sich die schmerzenden Rippen. Der Zusammenprall war wohl härter, als sie gedacht hatte. Sie tastete die Seite ihres Körpers ab und fand einen harten Gegenstand. Sie blickte an sich herunter und sah die Klinge, die ihr der Angreifer offensichtlich zugesteckt hatte. Hannah atmete schwer. Aus der Tasche des Angreifers hing ein Schlüssel. Sie griff zu und hievte sich schwerfällig auf die Beine. Sie stolperte langsam zur Tür und verließ die Hütte. Unter Schmerzen kämpfte sie sich durch die Kälte und färbte mit ihrem Blut den Schnee.